Tuesday, January 30, 2007

Hengst im Himmel - Barbaro ist tot

Namen wie Seabiscuit, Smarty Jones oder Secratariat sagen jedem amerikanischen Sportfan etwas. Wenn man jedoch nachfragt, wer die Jockeys dieser berühmten Derby-Hengste waren, erntet man in der Mehrheit nur ein Achselzucken. Der Star ist im Pferderennsport, der während der Triple Crown-Rennen im Frühjahr kurzzeitig selbst den Baseball aus dem Rampenlicht verdrängt, eindeutig das Tier und nicht der Mensch. Ein wehrloses Pferd kann man eben deutlich hemmungsloser mit Zuneigungsbekundungen überschütten, als einen Athleten und so hielt das Schicksal von Barbaro beinahe acht Monate lang die ganze Nation in Atem. Am Montag verlor jedoch der Kentucky-Sieger letzten ahres seinen langen Todeskampf, der mit seinem Beinbruch kurz nach dem Start in Baltimore am 20. Mai begonnen hatte.

Jedem anderen Pferd hätte man die lange Qual erspart. Als die fragilen Knochen des hochgezüchteten Tieres vor einem Millionenpublikum unter der Rennbelastung zersplitterten hatte es eigentlich sein Leben verwirkt. Doch die Besitzer Roy Jackson und seine Frau Gretchen trauten sich offenbar nicht, angesichts des überbordenden nationalen Mitgefühls mit dem edlen Renner, Brbaro einfach die Kugel zu geben. Und so wurde das Pferd für viele hunderttausend Dollar von den besten Tierärzten des Landes fünf Stunden lang operiert.

Doch die Behandlung half nur vorübergehend. Wegen der ungleichen Gewichtsverlagerung entzündeten sich seine Hufe, eine erneuerte Operation war notwendig. Nach der zweiten Operation schien Barbaro zur Erleichterung der mitleidenden Fans zunächst auf dem Weg der Besserung. In der vergangenen Woche verschlimmerte sich jedoch sein Zustand erneut und ein abermaliger Eingriff wurde nötig. Danach ging es Barabaro jedoch so schlecht, daß Roy Jackson ein Einsehen hatte: „Er hätte sein Leben lang Schmerzen gehabt. Es wäre immer schlimmer geworden.“ Am Montag wurde der Champion dann eingeschläfert.

Die Barbaro-Hysterie, die Amerika in den vergangenen Monaten erfasst hat, wird angsichts dieser Nachricht gewiß noch ein letztes Mal aufflackern, bevor sie erlischt. Noch einmal wird der Blumenladen der Kleinstadt Kennett Square in Pennsylvania, wo Barbaro behandelt wurde, Gebinde-Bestellungen aus der ganzen Welt annehmen und Lastwagenladungen voller Blumen an die Pforte der Tierklinik bringen. Und vermutlich wird es ein feierliches Begräbnis geben, zu dem mehr Besucher kommen als jüngst zur Trauerfeier des Popstars James Brown in New York.

Auf einer eigenen Barbaro-Website haben die Fans die Welt Live daran teil haben lassen, wie sie bis zuletzt um Barbaro bangten. „Mir schnürt es die Kehle zu, ich kann mich auf nichts konzentrieren“, schrieb in den letzten Stunden der Besucher Carson Black. „Unsere ganze Familie betet und hat Kerzen angezündet“, erzählte Cheryl. Als es dann zu Ende war, gab Barbaros einstiger Trainer stellvertretend für die Millionen von Mitleidenen zu Protokoll, daß „Barabaro ein Held, ein großer Kämpfer“ war.

Daß sich das Pferd diesen qualvollen Kampf nicht selbst ausgesucht hatte, war bei all dem freilich nebensächlich. Barbaro mußte acht Monate lang als Reality-Seifenoper her halten und sollte stellvertretend für Amerika den Tod und das Schicksal überwinden. Besitzer Roy Jackson kam das alles von Anfang an seltsam vor: „Ich habe keine Ahnung warum sich alle so in dieses Pferd vernarrt haben. Irgendwie haben sich alle an ihm aufgehängt.“ Jackson schien offenbar froh, dass das alles nun ein Ende hatte. So wie vermutlich auch Barbaro selbst.
Sebastian Moll

Saturday, January 27, 2007

Dürfen Schafe schwul sein? Ein Experiment schlägt Wellen

Wenn Dr. Charles Rostelli geahnt hätte, welche Pandora-Büchse er offnet, hätte er gewiß die Finger von den Schafen gelassen. Eigentlich wollte der Biologe von der Universität Oregon nur den Züchtern dabei helfen, mehr Kapital aus ihren Beständen zu schlagen, doch auf einmal hatte er die Homosexuellen-Lobby sowie die Tierschutzvereinigung PETA (People for the Ethical Treatment of Animals) am Hals.

Ausgangspunkt für Rostellis Versuche mit den Wolltieren war die Tatsache, daß beinahe zehn Prozent der Herden homosexuell ist. Daran störten sich deren Besitzer vermutlich weniger aus ideologischen, als aus wirtschaftlichen Gründen: Schafe, die sich nicht vermehren, sind deutlich weniger wert als frichtbare Heteros. Deshalb experimentierte Rostelli mit Hormontherapien, die den schwulen Böcken wieder mehr Lust auf die Mutterschafe und den lesbischen Tieren mehr Bock auf die Männer machen sollten. Die Experimente ergaben jedoch keine eindeutigen Ergebnisse.

Dennoch riefen sie einen Sturm der Entrüstung hervor. Am lautesten beschwerte sich Tennis-Star Martina Navratilova, die nicht nur seit Jahrzehnten für die Rechte von Homosexuellen eintritt, sondern auch Mitgleid der Tierschutzvereinigung PETA ist. In einem offenen Brief an das Forschungsteam von Rostelli beklagte sie, daß deren Untersuchungen nur als Versuch gesehen werden könnten, „eine Behandlungsmethode für sexuelle Orientierung zu finden.“ Navratilovas Beschwerde trat eine Lawine los – die Forscher wurden mit mehr als 20.000 entrüsteten emails bombardiert.

Die Schwulenrechtler, von Navratilova und von PETA mobilisiert, befürchten, daß hinter Rostellis Forschung die Auffassung von Homosexualität als Aberration steht, sowie die Hoffnung, sie zu korrigieren. Wenn es gelänge, die biologischen Grundlagen der Homosexualität zu begreifen, fasste der schwule Blogger Andrew Sullivan die Bedenken zusammen, könnten nicht nur homosexuellenfeindliche Konservative versuchen, ihre schwulen Kinder umzupolen. Schlimmer noch, es könnte zu anti-homosexueller Eugenik kommen: „Es gibt jetzt schon eine weit verbreitete Auslese nach Geschlecht“, schreibt Sullivan. „In der Dritten Welt kommen immer weniger Mädchen zur Welt. Und die meisten Eltern stehen homosexuellen Kindern wesentlich ablehnender gegenüber, als weiblichen.“

Wenn man die ethischen Implikationen der schwulen Schafsforschung zu Ende denkt, so Sullivan, würden die Dinge jedoch weniger eindeutig, als dies zunächst scheint. Als Liberaler, so Sullivan, befürworte er selbstverständlich das Recht der Frau, über ihren Körper zu bestimmen. Da könne er dann schlecht etwas dagegen einwenden, wenn eine Frau kein homosexuelles Kind haben möchte. Konservative, so Sullivan, gerieten allerdings in der Frage in ein ähnliches Dilemma: Sie sind gegen Abtreibung, sehen Homosexualität jedoch als eine Art Krankheit.

Solche Debatten gehen Rostelli und seinen Kollegen freilich viel zu weit. „Wir haben reine Grundlagenforschung betrieben. Wir wollen lediglich die Gehirnstruktur und die chemischen Prozesse verstehen, die bei der Partnerwahl eine Rolle spielen“, schrieb Jim Newman, ein Kollege Rostellis in Oregon an Andrew Sullivan. Sullivan trat daraufhin einen Schritt zurück und gab zu, daß es ihn ja durchaus interessieren würde, warum er denn schwul ist. Darüberhinaus spreche ja ein so großer Prozentsatz von schwulen Schafen dafür, daß Homosexualität eben keine Abweichung oder Perversion sei, sondern eine universelle Tatsache. Und dafür, wozu die Erkenntnisse der Forscher möglicherweise benutzt werden, dürfe man sie nicht verantwortlich machen. Die Frage, ob Schafe das Recht haben schwul zu sein, muss demnach die Politik entscheiden und nicht die Wissenschaft. Von den komplizierteren Fragen, die Rostellis Forschung aufwirft, ganz zu Schweigen


Sebastian Moll

Tuesday, January 23, 2007

Nicht den Fundamentalisten das Böse überlassen: Norman Mailer schreibt über Hitler

Man ist versucht, mit den Augen zu rollen und das Buch gleich wieder weg zu legen, wenn sich ein Romanerzähler als Teufel vorstellt und ankündigt, dem Leser im Folgenden die satanische Akte Adolf Hitler zu eröffnen. Selbst, wenn der Autor des Buches Norman Mailer heißt, scheint schon die Konstruktion so naiv und banal, dass man sich als aufgeklärter Mitteleuropäer damit weiter nicht beschäftigen mag. Die simplistische Darstellung Hitlers als Werkzeug des Ganz Bösen – wie der Chef unseres Erzählers, eines mittleren Angestellten der Hölle namens D.T. (der Teufel), von Mailer genannt wird – scheint die Anstrengungen mindestens einer Generation hochrangigster europäischer Intellektueller zu verspotten, dem Phänomen Hitler soziologisch, historisch und philosophisch auf die Schliche zu kommen. Mailer ist, wie es scheint, im Alter jenem amerikanischen Manichäismus verfallen, der auch George Bush beseelt, von dem sich Europa hingegen spätestens seit Kants Kritik der reinen Vernunft befreit hat.

Wenn man dennoch in Mailers gerade in den USA erschienenem Roman „A Castle in the Forest“ über Kindheit und Jugend Hitlers weiter ließt, erscheinen die Dinge jedoch nicht mehr so einfach. Denn Mailers Manichäismus, wie D.T. in einem Exkurs darlegt, ist wesentlich differenizerter, als der evangelikale. Schon lange, erklärt D.T. – in seiner irdischen Inkarnation ein SS-Geheimdienstoffizier – kämpfen nicht mehr zwei Reiche, das Böse und das Gute um die Welt. Schon lange erschwere eine dritte Kraft, nämlich der Mensch seine Arbeit. Mailer verfällt also nicht einfach bloß in mittelalterliche Betrachtungsweisen. Er bezieht durchaus das aufgeklärte Subjekt in seine Weltanschauung ein. Das Problem des Bösen, will er uns sagen, hat die Aufklärung jedoch nicht zu lösen vermocht. Sie hat es lediglich verkompliziert.

Einen besseren Beleg für dieses Argument als Adolf Hitler gibt es freilich nicht und so erklärt sich auch das Interesse Mailers an Hitler. Denn für das Böse interessiert sich Mailer schon lange, vermutlich spätestens seit er selbst seine Frau bei einer Party 1960 mit einem Messer attackierte und schwer verwundete. Konventionelle Kategorien von Gut und Böse waren ihm schon immer suspekt, insbesondere als vorgefertigte Wertesysteme – die der Linken und der Rechten gleichermaßen beispielsweise. Und in seinen Büchern über den Mörder Gary Gilmore und seine Hinrichtung (The Executioner’s Song) sowie über Lee Harvey Oswald (Oswald’s Tale) hat er sich bereits an das Böse herangetastet. Dass er irgendwann bei Hitler ankommt, erscheint im Rückblick deshalb geradezu logisch.

Ob er mit „The Castle in the Forest“ wirklich zur Lösung des Rätsels Hitler beitragen wollte ist vor diesem Hintergrund indes eher zweifelhaft. Es scheint vielmehr so, dass Hitler für Mailer eine Metapher ist – Hitler bedeutet das denkbar böseste Böse. Mailer benutzt diese Metapher und hat dabei eher Amerika als Deutschland im Blick. Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr einen, der so weit jenseits von konventionellem Gut und Böse zu denken gewohnt ist, die Leichtfertigkeit provoziert, mit der die Welt nach dem 11. September von Bush und Konsorten in diese Begriffe gefasst wird. „Wer auf starke moralische Kategorien verzichtet, aus Angst davor, dass sie missbrauchst werden können, lässt sie in den Händen derer, die sie am ehesten missbrauchen“, sagt die Philosophin Susan Neiman, die auf das Böse spezialisiert ist. So muss man wohl auch Mailers Motivation beschreiben.

Mailers Beitrag zum zusehnds wieder ins manichäische abrutschenden Diskurs über das Böse ist dabei nicht neu. Janet Maslin, die Kritikerin der New York Times, hat diesen Beitrag auf den Punkt gebracht, als sie sich über die Banalität von Mailers Erzählungen aus dem Hitlerschen Elternhaus in Braunau beklagte. Mailer hält es offenkundig mit Hannah Arendt, die dem Bösen jegliche Substanz und ontologische Kraft verweigerte. So liebt D.T. die Fundamentalisten, die ihm und seinem Dienstherren diese Kraft zugestehen: „Ihr Glauben hält jedes Versprechen, sich in die endgültige Massenvernichtungswaffe zu entwickeln.“

Selbst mit Hitler hatte es D.T. jedoch nicht so leicht. Moderne Subjekte gehören eben weder ganz dem Teufel noch ganz Gott. Deshalb, so D.T. „suchen wir nach Männern und Frauen, die bereit sind einige soziale oder göttliche Gesetze zu übertreten.“ Ein solches Subjekt findet der Ganz Böse in Hitlers Vater Alois, der aus einem inzestuösen Haushalt stammt und die Inzucht mit seiner Nichte Klara Poelzl, die, wie Mailer unbeweisbar behauptet, auch seine Tochter war, wissentlich und genüßlich weiter treibt. Das ruft den Bösen auf den Plan, hier sieht er sein Schlupfloch.

Der weitere Verlauf der Erzählung scheint vorherbestimmt – man erwartet, der vollen Entfaltung des Bösen in der Person Adolf Hitler beizuwohnen. Diese Befriedigung verschafft Mailer dem Leser aber nicht. Der junge Hitler ist nicht offenkundig satanisch, er quält nicht etwa Tiere oder dergleichen, wie man das von jungen Teufeln aus Hollywood kennt. Mailer ist subtiler, ihm ist vor allem an einer möglichst detaillierten und plausiblen Rekonstruktion der Hitlerschen Familienverhältnisse und der Psyche des jugendlichen Adolf gelegen. D.T. bleibt vorerst vor allem Spion seines Meisters, penibler Beobachter, Empirist. Nachdem er berichtet, wie Hitler im Alter von 14 Jahren beim bekoten seines Schuzeugnisses erwischt wird, verabschiedet D.T. sich vom Leser, der wohl weiß, was als nächstes kommt. „Wir Teufel sind weise genug, um zu wissen, dass es keine Antworten gibt – es gibt nur Fragen“, sagt er zum Schluß. Die Frage nach dem Bösen bleibt stehen, die Antwort entzieht sich jedoch in Mailers Buch. Und genau darin liegt sein Verdienst.

Friday, January 19, 2007

Stadtmauer oder Wäscheleine - Wohne ich in Manhattan?

Stadtmauer oder Wäscheleine:
Wohne ich überhaupt in Manhattan?

Bislang war ich mir bislang immer relativ sicher, dass ich in Manhattan wohne. Jetzt habe ich gelernt, dass das Ansichtssache ist.

Die rund 16,000 orthodoxen Juden, die zwischen den beiden Flüssen und zwischen 125ter und 55ter Straße leben, würden beispielsweise behaupten, dass sie ihren eigenen Haushalt bewohnen – auch wenn dieser beinahe die halbe Insel umfasst und sie ihn mit einer halben Millionen Goyem wie mir teilen. Und wer ihnen versucht das auszureden, dem können sie sowohl die Außenwände dieses Haushalts als auch den Mietvertrag dafür zeigen.

Die Wände bestehen aus einem Seil, das sich von Laternenmast zu Laternenmast rund um die etwa 16 Quadratkilometer der größten New Yorker Immobilie spannt. Wer nichts davon weiß, der wird die simple Wäscheleine für eine Strom- oder Telefonleitung halten, wenn sie ihm überhaupt auffällt. Wenn man erst einmal darauf geeicht ist, sieht man sie jedoch überall.

Die Miete des Hauses beträgt einen Dollar, der Mietvertrag mit der Stadt läuft über 99 Jahre. Das haben die orthodoxen Gemeinden 1999 ausgehandelt. Im kommenden Jahr wird der Haushalt um noch einmal ca. 15 Quadratkilometer in Richtung Süden bis zur Houston Street vergrößert.

Das ganze ist eigentlich ein Trick, um die strengen talmudischen Gebote zu unterwandern, denen sich die orthodoxen Juden New Yorks unterwerfen müssen. Am Sabbath dürfen sie eigentlich nur innerhalb der Mauern dieses „Eruv“ genannten erweiterten Haushalts bestimmten Verrichtungen nachgehen – Hunde an der Leine führen, Kinderwagen schieben, Schlüssel tragen beispielsweise.

Der Talmud gebietet weiter, dass die Bewohner eines Eruvs, eine „symbolisch vereinigte Einheit“ zu bilden haben. Davon wissen freilich weder die nordindischen Taxifahrer an der Fifth Avenue, noch die muslimischen Straßenhändler an der 125ten Straße etwas, geschweige denn die schwarzen Frauen, die am Sabbath wie die Heuschrecken auf den Großmarkt am Hudson herabstürzen.


Auf den Kompromiss, dass nicht jeder Bewohner des Eruv ihn versteht oder achtet, lassen sich die Juden allerdings ein. Schließlich sind sie auch New Yorker und wissen deshalb, dass sich jeder Mitbürger im Geist sein eigenes New York baut. Das Eruv ist eigentlich keine Absonderlichkeit. Im Gegenteil - jeder New Yorker hat in irgend einer Form sein eigenes Eruv, mit eigenen Grenzen, einer eigenen Geographie und eigenen Regeln. Es gibt nicht ein New York, es gibt Unzählige, die sich überlagern. Was für den einen eine Art Stadtmauer ist, ist eben für andere nur eine Wäscheleine. So lange mit der Leine keine andere Version der Stadt gestört wird, ruft sie bestenfalls ein amüsertes Schulterzucken hervor. Gegen das Manhattaner Eruv gab es etwa bislang nur eine einzige Bewschwerde. Eine ältere Dame fühlte durch die Leine den Blick aus ihrer Wohnung über den Hudson gestört. Ihr konnte geholfen werden – die Leine wurde einfach ein Stück niedriger gehängt.

Wednesday, January 17, 2007

Die Stadt als Rhytmus und Energie - Doug Aitkens Videotektur am MoMa

Es ist Doug Aitken zu wünschen, dass es nur an dem Kälteeinbruch nach einem spätsommerlichen New Yorker Dezember lag. Gerade einmal ein paar Dutzend Passanten blieben an der 53ten und 54ten Strasse stehen, um sich am Eröffnungsabend seine ambitionierte Video-Projektion „Sleepwalkers“ an den Außenwänden des MoMa zu betrachten – angesichts der zum Feierabend durch Midtown Manhattan hastenden Millionen eine klägliche Zahl. Zu befürchten ist allerdings, dass die New Yorker, gerade in solch unmittelbarer Nähe zum Times Square von über ihren Köpfen flimmernden Lichtern, Schriftzügen und Filmsequenzen zu übersättigt sind, um ihre Blicke nach oben zu richten oder gar zu verweilen.

Um die „Sleepwalkers“ nicht bloß dumpf als ein weiteres unter tausenden Lichtsignalen der großen Stadt wahrzunehmen muss der Passant aber zumindest den Schritt verlangsamen. Denn anders als die Werbebotschaften am Times Square sind Aitkens Sequenzen keine Generalattacke auf die Sinne, der man sich nicht erwehren kann. Die fünf je 13-Minuten langen Filme, die synchron aber in immer neuer räumlicher Folge und Kombination als Endlosschleifen auf die Wände rund um den Moma-Skultpturengarten, auf die Rückseite des Bürogebäudes und über den Eingang des Museums flimmern, fordern den Betrachter, aktiv einzugreifen – als Regisseur quasi, der per Rundgang das Filmangebot von Aitken im Geist zu einem individualisierten Ganzen schneidet.

Aitkens Einladung zum Innehalten ist zugleich eine Einladung zur Selbstreflektion – das Projekt ist eine Meditation über die Erfahrung der Stadt im 21. Jahrhundert. Die Filme beginnen mit dem Sonnenuntergang über Manhattan und zeigen, wie sich fünf archetypische New Yorker in ihren Wohnungen auf die nächtlichen Straßen der Stadt vorbereiten. Eine Postbedienstete, gespielt von Neo-Folk-Sängerin Cat Power, ein Fahrradkurier, gespielt vom New Yorker Straßentrommler Ryan Donowho, ein Geschäftsmann, gespielt von Donald Sutherland, ein Elektriker, gespielt von Seu Jorge und eine Büroangestellte, gespielt von Tilda Swinton überlassen sich synchron dem Kreislauf der Stadt - dem Verkehr, der U-Bahn, einem Bus. Zusammen mit ihnen erlebt der Passant, wie sie die Rhythmen der Stadt aufnehmen, sich schlafwandlerisch vom Puls New Yorks durch die Blutbahnen der Metropole treiben lassen, bis sie schließlich, gleichzeitig aber je für sich, in einem ekstatischen Augenblick aus der Bahn geschleudert werden und für einen kurzen Moment aufwachen: Der Fahrradkurier steigert sich auf einem U-Bahnsteig in einen wilden Trommelsolo auf einem Eimer; der Geschäftsmann tanzt auf dem Dach eines Taxis, von dem er angefahren wird; die Postbeamte wirbelt sich in eine schwindelige Pirouette, bis schließlich die Welt von ihr abfällt; die Büroangestellte träumt sich als Violinistin in das Zentrum eines Symphoniekonzertes; der Elektriker fängt an, mit einem Starkstromkabel Lasso zu werfen. Wie in einem Robert Altmann Film laufen parallele aber völlig voneinander losgelöste Existenzen auf ein gemeinsames Crescendo zu.


Einen solchen Augenblick der Wachheit will Aitken woh auch für die schlafwandelnden Passanten an der 53ten und 54ten Straße zwischen Fifth und Sixth Avenue schaffen. Einen Augenblick, in dem sie sich ihrer einzigen Gemeinsamkeit gewahr werden – der Art und Weise nämlich, wie sie in ihrem je eigenen Film täglich durch die Stadt navigieren. Das Projekt ist ebenso paradox wie perfekt selbst-referentiell. So schreibt Produzent Peter Eleey von der Initiative CreativeWorks im Katalog zu der Installation: „Sleepwalkers fordert vom Betrachter zwar denselben Zustand der Halbwachheit, mit dem er sich durch die Stadt bewegt. Zugleich macht er diesen Zustand jedoch bewusst und reißt uns dadurch aus ihm heraus. Er erzählt uns eine Geschichte über uns selbst und strickt uns dadurch zusammen.“ Eleey beschreibt Sleepwalkers als eine Art Autokino für New York – eine gemeinschaftliche Zuschauer-Erfahrung in der der Einzelne seinen Straßenpanzer vorübergehend durchlässig macht, ihn jedoch nicht komplett aufgeben muss. Man ist beim Betrachten von Sleepwalkers zusammen, bleibt aber trotzdem alleine und wird sich dabei genau dieser Tatsache bewusst.

Die Rolle des MoMa ist dabei nicht bloß zufällig. Schon bei seinen letzten Projekten in der Londoner Serpentine Gallery 2001 und am Musee d’Art Moderne de la Ville de Paris 2005 hat sich Aitken dafür interessiert, wie Museumsarchitektur und Video zusammenwirken, um die Grenzen zwischen dem Innen und Außen von Ausstellungsflächen aufzulösen. Die Außenwände des MoMa zur Ausstellungsfläche zu machen, war da nur ein folgerichtiger Schritt, vor allem, weil sich Yashio Taniguchis Neubau von 2003 besonders gut für eine noch tiefer gehende Erforschung des Zusammenspiels von Architektur und Film eignet. Der strenge, hochmodernistische Bau mit seiner matten, opaken Haut aus Kunststoffglas tritt nämlich selbst als Werk völlig zurück. Durch die Projektionen verwandelt er sich deshalb komplett in die gezeigten Bilder – durchbrochen nur von Ahnungen dessen, was sich hinter der Fassade abspielt: Eine brennende Bürolampe etwa oder die dinierenden Gäste des Moma-Restaurant im Erdgeschoß.

Doch es löst sich nicht nur die Projektionsebene in ihren Hintergrund, das MoMa-Innere, auf. Genauso nahtlos fügt sich Aitkens Videotektur in das umliegende, vertikale Lichter-Labyrinth von Manhattan. Die Stadt wird, wie Aitken sagt, eine „grenzenlose Landschaft aus reiner Wärme und Energie.“ Eine Landschaft, in der man sich schlafwandelnd wieder verliert, nachdem die „Sleepwalkers“ für einen flüchtigen Augenblick dem Bewußtsein Halt gegeben haben.

Friday, January 12, 2007

Titelträume nach der Katastrophe

NFL Überraschung New Orleans

Lesen Sie unter:

http://www.spiegel.de/sport/ussports/0,1518,459051,00.html

Thursday, January 11, 2007

Unbelehrbar - Barry Bonds hat schon wieder gedopt

Immer wieder hat Bud Selig, Commissioner der US-Baseball-Liga, in den vergangenen Monaten deutlich gemacht, wie Unwohl ihm dabei ist, Woche für Woche Barry Bonds für die San Francisco Giants auflaufen zu sehen. Allzuviel Mitleid darf man mit Selig allerdings nicht haben, denn wenn er in diesem Jahr Bonds womöglich sogar als erfolgreichsten Homerun-Schläger aller Zeiten ehren muss, hat er sich das weitgehend selbst zuzuschreiben. Denn schließlich hat Selig das Reglement, das ihm die Hände bindet, selbst geschaffen.

Die dumme Lage, in die er sich manövriert hat, wurde Selig in dieser Woche noch einmal schmerzlich vor Augen geführt. Die New Yorker Zeitung Daily News berichtete nämlich am Mittwoch, dass Bonds offenbar zusätzlich zu seinem mittlerweile wohl dokumentiertem Anabolika-Mißbrauch erst in der gerade abgelaufenen Saison positiv auf Amphetamine getestet wurde. Der Test war jedoch nicht publik gemacht orden, weil die Baseball-Liga nach ihren eigenen Regeln bei einem ersten positiven Ampehtamin-Test weder eine Strafe verhängen, noch den Namen des Spielers bekannt geben darf. Bonds wurde lediglich verwarnt und musste sich psychotherapeutischen Maßnahmen unterziehen.

Der erneute Dopingmißbrauch von Bonds passt zu der Attitüde, die er an den Tag legt, seit vor drei Jahren seine Vertsrickung in den Balco-Skandal bekannt wurde. Bonds hat zwar vor einem kalifornischen Gericht zugegeben, Anabolika genommen zu haben, er nutzt jedoch skrupellos die Laschheit der Dopingregeln im Baseball aus, die es ihm erlauben, weiter zu spielen. Auch, dass die Fans ihn beinahe bei jedem Spiel auspfeiffen und ihn mit Spitzen bewerfen ficht ihn nicht an. Bonds will den ewigen Homerun-Rekord von Hank Aaron brechen, komme was da wolle. 22 Schläge fehlen ihm noch zu Aarons Marke von 755 und man erwartet, dass Bonds sie in der kommenden Saison erreicht.

Auch Bonds Reaktion auf die Enthüllung seines Amphetamin-Tests zeugte von seiner erstaunlichen Sturheit und Unbelehrbarkeit. Er habe eine Substanz aus dem Kabinenschrank seines Mannschaftskollegen Mark Sweeney eingenommen, ohne zu wissen, dass es sich dabei um Amphetamine handelt, behauptete Bonds. Das erinnerte an die Erklärung seiner positiven Anabolika-Probe. Er habe geglaubt er nehme Leinsamen sowie eine Creme gegen Arthrose, redete er sich damals heraus.

Wieviel Ruhm ihm sein fragwürdiger Rekord einbringen wird, hätte Bonds indes in der vergangenen Woche sehen können, als seinem ehemaligen Kollegen Mark McGwire die Inauguration in die Ruhmeshalle des Baseball verweigert wurde. Der beste Schlagmann der 90er Jahre bekam nur 23 statt der nötigen 75 Prozent der Stimmen, die nötig waren, ihn als einen der größten Spieler aller Zeiten zu küren. Seine Weigerung, sich zu Dopinganschuldigungen zu äußern war der Jury offenbar besser in Erinnerung, als seine beeindruckende Karrierestatistik. Aber vermutlich ließ auch diese Episode Bonds kalt – die öffentliche Meinung ist dem San Francisco Giant ganz offensichtlich völlig gleichgültig.

Sunday, January 07, 2007

Messias Made in USA

Sie stellen den Amführer der Parlamentsmehrheit im Senat und einen aussichtsreichn Präsidentschaftskandidaten. Wird 2007 das Jahr der Mormonen in den USA?

Lesen Sie:

http://www.taz.de/pt/2007/01/08/a0162.1/text

Friday, January 05, 2007

Verstümmelung oder Lebenshilfe - der Fall des Mädchens Ashley

Die kleine Ashley liegt den ganzen Tag auf ihrem Bett und starrt an die Decke. Den Kopf heben oder ein Spielzeug halten kann die Neunjährige nicht. Manchmal scheint sie konzentriert auf den Fernseher zu starren, sagt ihr Vater oder auf Musik zu reagieren. Genau weiß er es nicht. Ashley hat von Geburt an eine Krankheit namens „statische Encephalopathy“ – ein irreparabler Gehirndefekt. An ihrem Zustand wird sich lebenslang nichts ändern.

Deshalb entschlossen sich ihre Eltern vor zwei Jahren zu einem ungewöhnlichen Schritt. Sie ließen der damals Siebenjährigen den Uterus und die Brustansätze entfernen und unterzogen Ashley einer massiven Östrogenkur. Ashley sollte nicht mehr wachsen, damit ihre Eltern sie besser pflegen können. „Wir sind am Rande unserer Kapazität, sie mit ihren 32 Kilogramm zu heben, ihre Großmütter sind bereits überfordert. Wir wollen sicher stellen, dass wir sie weiterhin auf Ausflüge mitnehmen können, sie ins Wohnzimmer setzen und sie baden können“, so die Eltern von Ashley in einer ausführlichen Erklärung auf ihrer website www.ashleytreatment.com.

Der Fall war im Dezember nach einem Artikel in einer medizinischen Fachzeitschrift an die Öffentlichkeit gelangt – die Eltern reagierten mit ihrer ausführlichen Stellungnahme im Internet auf die entstehende Debatte über die moralische Richtigkeit ihrer Entscheidung. „Es ging bei der Behandlung von Ashley nie um die Bequemlichkeit ihrer Pfleger“, verteidigen sie sich dort, „sondern um die Lebensqualität des Mädchens. Das schlimmste an ihrem Zustand ist die Langeweile und die Behandlung verbessert ihre Situation um ein Vielfaches.“ Darüberhinaus argumentierte die Mutter, dass Menstruationskrämpfe und große Brüste das ohnehin beträchtliche Unwohlsein ihrer Tochter noch deutlich erhöhen würden.

Das Krankenhaus, das die Operation an Ashley vorgenommen hatte – das Seattle Children’s Hospital - war ebenfalls zu dem Schluß gekommen, dass es bei der Behandlung um die Lebensqualität des Mädchens und nicht um die der Eltern ging. Die Ethik-Kommission der Einrichtung hatte lediglich rechtliche Bedenken wegen der Sterlisierung einer Behinderten. Da sich Ashley jedoch ohnehin niemals wird freiwillig fortpflanzen können, wurden diese Vorbehalte schnell ausgeräumt. „Kleiner zu bleiben hat große Vorteile für das Kind“, sagt Dr. Benjamin Wilfond von der Seattler Klinik. „Die Absichten der Eltern zielten eindeutig darauf ab, dem Kind zu helfen.“

Für viele ist der Fall jedoch überhaupt nicht eindeutig. Sowohl auf der website der Eltern als auch auf der website des Nachrichtensenders MSNBC entstand in den vergangenen Tagen eine heftige Debatte über den Fall Ashley. Dort sind zwar auch – wie schon vor zwei Jahren im Fall Terry Schiavo – die vorhersehbaren Empörungsrufe nachzulesen, die die Operation als „Eingriff in die Natur“ denunzieren und von „Eugenik“ reden. Die meisten Einträge zeigen jedoch bei allem Unwohlsein ein hohes Maß an Verständnis für die Eltern. „Es ist sehr einfach eine solche Entscheidung zu kritisieren“, schreibt etwa der User fab2. „Ich bewundere die mutige Entscheidung der Eltern. Sie haben es sich nicht leicht gemacht und ich bin sicher, dass sie den besten Weg gewählt haben.“ Al Dad schreibt: „Eine Fußnote an die Steinwerfer: Zahnspangen, die Entfernung potenziell karzinogener Hautstellen, die kosmetische Korrektur von Hasenscharten – all das sind auch Eingriffe in die Natur. Würden Sie Ihr Kind um Zustimmung zu solchen Prozeduren bitten? Lasst die Steine liegen!“

Auch die Fachleute zeigen aller Bedenken zum Trotz Verständnis für die Eltern: „Ursprünglich war ich ausser mir“, schreibt etwa Dr. Tom Shakespeare, der sich als Bioethiker zu erkennen gibt. „Aber je länger ich darüber nachdenke, desto besser kann ich die Eltern verstehen.“ Ähnlich sieht es Shakespeare’s Kollege Jeffrey Brosco aus Miami. „Die meisten Leute werden spontan sagen, dass das, was die Eltern getan haben, falsch ist. Aber man muss verstehen, dass sie vor einem schweren Dilemma standen. Wenn wir als Gesellschaft solche Dilemmata verhindern wollen, müssen wir mehr Geld für die Heimpflege von Behinderten zur Verfügung stellen.“Das sieht auch Dr. Joel Frader, Bioethiker an der Universität von Chicago so. „Diese spezielle Behandlung, auch wenn sie in dieser Situation angemessen sein mag, ist keine Lösung für das große Problem der Pflege von Behinderten in unserer Gesellschaft. Die Unterstützung, die wir als Gesellschaft Pflegern anbieten, ist miserabel.“

Der Fall Ashley scheint in den USA auf ein anderes politisches Klima zu stoßen, als der Fall von Terry Schiavo vor zwei Jahren. Die grundsätzlichen ethisch-religiösen Fragen des Eingriffs in die Natur und das Leben treten hinter das Nachdenken über die sozialen Implikationen zurück. Erst in der vergangenen Woche hatte die New York Times mit einem großen Artikel darüber das Land aufgerüttelt, dass viele Familien vor dem Bankrott stehen, weil sie sich die Pflege ihrer Angehörigen nicht leisten können. „15 Millionen Amerikaner pflegen ihre Angehörigen“, stand dort zu lesen. „Die meisten verdienen zu viel um sich für staatliche Unterstützung zu qualifizieren aber zu wenig, um für die Pfelgekosten aufkommen zu können.“ Vor diesem Hintergrund ist das Potenzial für Mitgefühl mit Ashleys Eltern in der amerikanischen Bevölkerung größer, als das Potenzial für moralische Entrüstung. Die Zeit, in der religiöser Fundamentalismus die öffentliche Debatte beherrschen konnte, scheint vorbei zu sein.

Sebastian Moll

Tuesday, January 02, 2007

Sylvester in Harlem - Im Herz der Finsternis

Ich lebe jetzt schon beinahe sieben Jahre in New York und doch kommt es ab und zu noch vor, dass ich mich aufführe, wie ein ignoranter Tourist. Wie etwa dieses Jahr an Sylvester.

Die New Yorker Standard Restaurant-Gedecke für 130 Dollar aufwärts waren von meinem Jahresendbudget nicht mehr gedeckt, die Preise für Jazz- oder Klassikkonzerte ab 60 Dollar kamen mir ebenfalls überteuert vor und mich vor irgendeinem Club von einem Türsteher abmustern zu lassen, ob ich auch Hip genug bin, um an der Jugendtazveranstaltung hinter den Samtseilen teilzunehmen, kam mir auch nicht sonderlich attraktiv vor. Deshalb beschloss ich in die Kirche zu gehen.

Ein Blick in die Zeitung ergab keine sonderlich große Auswahl an Jahresendgottesdiensten, wie sie sowohl im katholischen als auch im evangelischen Mtteleuropa üblich sind. Die meisten Mitternachtsgottesdienste fanden in Harlem statt, also suchte ich mir die First Abyssinian Baptist Church aus, die wohl berühmteste und traditionsreichste Gospel-Kirche nördlich der 110ten Strasse.

Damit, dass ich wirklich der einzige Weisse in dem prachtvollen Steinbau aus den 20er Jahren an der 138ten Strasse bin, hatte ich ja gerechnet. Das Flugblatt, das ein eher strenger Kirchendiener im Frack mir mit weißen Handschuhen am Eingang reichte, ließ mich jedoch ein wenig ins Schwitzen geraten. Schwarze Gemeinden in den USA, stand da geschrieben, bieten an Sylvester seit dem 1. Januar 1863 Gottesdienste an. Der Grund für die Feier damals war, dass um Mitternacht die Sklaverei beendet wurde. Ich wohnte also einem Fest bei, das das Ende der Unterjochung durch den weißen Mann beging und kam mir deshalb reichlich deplaziert vor.

Aber jetzt war ich halt schon einmal hier und quetschte mich ein wenig steif und verkrampft auf den mir ausgesprochen freundlich zugewiesen Platz in dem restlos überfüllten Gotteshaus. Und als die überaus elegant gekleideten Damen rechts und links von mir mich nicht nur höflich, sondern herzlich begrüßten, war mir schon ein wenig leichter. Ich fühlte mich nicht mehr ganz so sehr als Enkel von Sklavenhaltern, sondern mehr als Freund, der sich gemeinsam mit den Betroffenen über das Ende der Entmenschlichung der Afro-Amerikaner vor 143 Jahren freut.

Die Zeremonie konnte beginnen – ich fing an, mich auf den Gospel-Chor und eine stimmungsvolle Andacht in einer exotischen Umgebung zu freuen. Doch als zu Beginn einzelne Gemeindemitglieder aufstanden und ekstatisch von ihren Erweckungserlebnissen berichteten , dämmerte mir, dass ich hier nicht nur aus rassischen Gründen deplaziert bin. Die Abyssinian Church ist eine Baptisten-Gemeinde und die amerikanischen Baptisten sind der Inbegriff des evangelikalen Fundamentalismus. George Bush und sein spiritueller Mentor Billy Graham sind Baptisten und das baptitische Glaubenssystem lässt Bush glauben, dass er einen direkten Auftrag von Gott hat, die Welt vom Bösen zu befreien. Ich war also gleich im doppelten Sinn in das Herz der Finsternis getappt.

Kurioserweise fühlte ich mich mit dem Fortgang des Gottesdienstes zunehmend wohl dort. Die Naivität, mit der die Gemeindemitglieder von íhren persönlichen Offenbarungen im vergangenen Jahre berichteten hatte etwas durchweg Rührendes. Der Gospel Chor mit seinen extravaganten, afrikanisch inspirierten Gewändern in satten hellen Farben von Lila bis Zitronengelb war nicht nur optisch mitreißend. Und der Überzeugungskraft der feurigen Predigt von Reverend Butts, der sich rhetorisch kunstvoll in eine leidenschaftliche Glaubensrage hinsteigerte, konnte man sich nur schwer entziehen. Die simple Botschaft der Predigt war ebenso klar wie schön – befolge im neuen Jahr die Gebote Gottes, so gut, wie es Dir eben gelingt. Jesus steht Dir dabei zur Seite, er ist Dein gnädiger Freund, er liebt Dich und verzeiht Dir.

Mal ehrlich – bei aller Skepsis, rationaler Abgeklärtheit und tiefem Säkularismus – wer hätte nicht gerne einen gnädigen Heiland als persönlichen Freund, mit dem man sich unterhalten kann, wenn man es braucht, der immer für einen da ist und der einem Trost und Mut spendet. Der amerikanische Evangelikalismus erschien plötzlich gar nicht mehr so abwegig – zumindest wurde die Attraktion der Konfession nachvollziehbar und der Grund, warum es in den USA beinahe 19 Millionen Baptisten gibt. Insbesondere, wenn man dabei die Geschichte der schwarzen Unterdrückung im Hinterkopf hat und der dringende Bedarf an Trost und Mut in der schwarz-amerikanischen Community. Bevor die Watch Services zu Neujahr nach 1863 die Befreiung aus der Sklaverei zelebrierten, feierten die Sklaven im Süden an Sylvester nicht selten das letzte Beisammensein ihrer Familien. Am ersten Januar machten die Sklavenhalter Inventur und verkauften das Personal, das sie nicht mehr brauchten – auch wenn Brüder und Schwestern, Mütter, Väter, Tochter und Söhne zurück blieben. Wem ist es zu verdenken, in einer solchen Lage an einen persönlichen und gütigen Gott zu glauben, der einem hilft, den nächsten Tag, die nächste Woche, das nächste Jahr zu überstehen.

Was ich im Gespräch mit aufgeklärten Linksintellekutellen vermutlich nie zugeben werde – als ich mit 1000 Harlemer Schwarzen um Mitternacht Hand in Hand für das neue Jahr betete und den Umstehenden dann, in Menschlichkeit vereint, um den Hals fiel, war ich zutiefst gerührt. Es war mehr, als nur die Achtung vor der Gläubigkeit dieser Menschen, die mir Schauder über den Rücken jagte. Es war ein Wunsch, wie sie zu wissen, dass es einen guten und gerechten Heiland gibt, der über einen wacht, ein beinahe primitver Wille zu Gnosis. Es packte mich der Neid, dass mir eine solche Gläubigkeit nicht gelingen mag.

Zugleich wurde mir klar, dass George Bushs und Billy Grahams Version dieser Gläubigkeit derartige Kraft und Tiefe nicht besitzt; dass der zeitgenössissche, politisierte, konservative Fundamentalismus eine Bastardisierung und Vulgarisierung, eine Karikatur dieser Gläubigkeit ist, dieser „amerikanischen Gnosis“, wie der Kulturwissenschaftler Harold Bloom die konfessions-übergreifende Form speziell amerikanische Spiritualität einmal nannte. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass auch nur einer der Anwesenden in der Abyssinian Baptist Church an der 138ten Strasse die Republikaner wählen würde. Oder dass der Reverend Butts George Bush unterstützen würde. Und plötzlich erschien es mir als Tragödie, dass der bewegende Kern der amerikanischen Religiosität von den Bushs und Billy Grahams des Landes korrumpiert worden ist.

So ging ich mit zwei erschütterten Vorurteilen und dennoch – oder vielleicht deshalb - beseelt und beschwingt ins neue Jahr. Das eine: dass die Opfer der Sklaverei auf die Rasse ihrer einstigen Peiniger pauschal zornig sind. Sie sind es nicht, sie können differenzieren und ihre Herzen ihrem unmittelbar Nächsten öffnen, gleich welcher Rsse er angehört. Der Rassismus wird nicht umgekehrt, obwohl das ausgesprochen veständlich wäre. Zweitens – dass die amerikanischen Evangelikalen dumm und gefährlich sind. Im Gegenteil – recht verstandener Baptismus mag naiv sein, aber er ist gewiss nicht banal und bestimmt nicht fanatisch. Jedenfalls nicht an der 138ten Strasse in Harlem.