Tuesday, June 26, 2007

Wilder Westen der Studienfinanzierung - Bildung in den USA lohnt sich kaum mehr

(Frankfurter Rundschau, 25.6. 2007)

Nach gewöhnlichen Maßstäben würde man Devraj Roy als gut situiert bezeichnen. Der aus Kalkutta stammende Investmentbankier verdient an der Wall Street rund 150,000 Dollar im Jahr. Das ist eigentlich sogar in New York ausreichend Geld, um seiner dreiköpfigen Familie einen angenehmen Lebensstil zu ermöglichen. Doch der 32-Jährige muss trotz seiner stattlichen Honorierung jeden Cent umdrehen. Um sich die Universtitätsausbildung leisten zu können, die ihm die Qualifikation für seinen jetzigen Job ermöglichte, hatte er Kredite von beinahe 200,000 Dollar aufnehmen müssen. Und aus dieser Erfahrung heraus fängt er jetzt schon an, für die Ausbildung seines gerade einmal ein Jahr alten Sohnes zu sparen.

Das Schicksal von Roy ist nicht aussergewöhnlich. Eine vierjährige Collegeausbildung kostet in den USA im Durchschnitt rund 150,000 Dollar, ein weiterführender Abschluss mit einem Magister oder einem vergleichbaren Diplom noch einmal ca. 100,000. Familien aus unteren und mittleren Einkommensschichten können sich das aus dem Ersparten heraus nicht leisten und so startet der amerikanische Collegeabgänger im Schnitt mit 19,000 Dollar Schulden in das Berufsleben. Die Kreditbranche für die Ausbildungsfinanzierung macht pro Jahr 85 Milliarden Dollar Umsatz.

Es geht um viel bei dem Geschäft mit der Studienfinanzierung in den USA und da ist es nicht verwunderlich, dass mit harten Bandagen um die kostbaren Marktanteile gekämpft wird. So wurde in den vergangenen Wochen von einem Untersuchungsausschuss des Kongresses sowie vom New Yorker Generalstaatsanwalt Andrew Cuomo die offenbar seit Jahren weit verbreitete Praxis der Kreditfirmen aufgedeckt, Universitätsangestellte zu bestechen. Studentenberater in Finanzierungsfragen, sogenannte „Financial Aid Officers“, wurden mit „Beratungs-Zahlungen“, attraktiven Aktienpaketen und extravagenten Einladungen dazu bewogen, ihren Studenten und deren Eltern bestimmte Kredite nahezulegen. Von dem Skandal betroffen sind unter anderem so renommierte Universitäten wie die New Yorker Columbia Universität und die Universität von Texas.

Auch im Bildungsministerium rollten in der Folge der Enthüllungen Köpfe. Die meisten der Kredite sind durch Bundesmittel gestützt, da Studienanfänger nach gängigen Bonitätskriterien keine Chance auf ein Darlehen hätten. Dem Bund kam demnach eine Aufsichtspflicht über die Praktiken der Kreditgeber zu, die er nach Ansicht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses sträflich vernachlässigt hat. Mitte Mai musste Theresa Shaw, die im Bildungsministerium für die Finanzierung der Studentenkredite zuständige Beamte, ihren Hut nehmen.

Den Boden für den Korruptionsskandal hat jedoch die Bildungspolitik von George Bush bereitet, der im Vergleich zu seinem Vorgänger Bill Clinton einen radikalen Richtungswechsel vollzog. Da die Studentenkredite ohnehin staatlich gestützt waren, wollte Clinton seinerzeit den privaten Finanzsektor ganz aus der Bildungsfinanzierung heraus drängen. Unter seiner Präsidentschaft wurden immer mehr Studentenkredite direkt vom Staat vergeben. Das machte die Kredite billiger und entlastete somit den Steuerzahler. Ziel Clintons war es, niedrigen und mittleren Einkommensschichten den Zugang zu einer höheren Bildung zu erleichtern.

Bush revidierte diesen Kurs jedoch wieder. Er fuhr nicht nur die Anzahl der staatlichen Kredite zurück sondern auch die Bezuschussung der privaten Kredite. Wie in vielen Bereichen verfolgte der Präsident stur seine Privatisierungsideologie. Das hatte zur Folge, dass die privaten Kreditinstitute in einen erbitterten Wettbewerb gegeneinander traten, um den unter Clinton verlorenen Markt zurück zu erobern und unter sich aufzuteilen. Die Bestechung von Universitätsbediensteten war nur der krasseste Auswuchs dessen, was der Bildungswissenschaftler Steven Burd einen „wilden Westen“ auf dem Studienfinanzierungsmarkt nennt.

Bei den verbliebenen staatlich garantierten Studienkrediten ist derweil der Zinssatz auf 6,8 % gestiegen. Insgesamt sind seit Clinton’s Zeiten die Bildungskosten zwei Mal so schnell angestiegen wie die durchschnittlichen Konsumgüterpreise. Bildung lohnt sich immer weniger: Die durch ein höheres Bildungsniveau höheren Einkommen werden zunehmend durch Finanzierung erst der eigenen Bildung und dann der der Kinder wieder aufgefressen. Devraj Roy kann davon ein Lied singen.

Sebastian Moll

Tuesday, June 19, 2007

Das Buch als Fanartikel- Kandidatenliteratur im Präsidentschaftswahlkampf

(Literaturen, Nr 7/2007)

Es dauert noch beinahe anderthalb Jahre, bis Amerika einen Nachfolger von George Bush in das Weisse Haus wählt, aber man gewinnt bisweilen den Eindruck, dass es nur noch ein paar Wochen sind. Aus jeder der beiden Parteien haben knapp ein Dutzend Politiker offiziell ihre Kandidatur bekannt gegeben, obwohl ein solches Abenteuer selbst beim Ausscheiden in der Vorwahl eine acht - bis neun stellige Summe kostet. Die demokratischen Herausforderer halten untereinander bereits Fernsehdebatten ab, die politischen Blogs – seit der überaus erfolgreichen, internetgestützten Kampagne von Howard Dean vor vier Jahren ein unverzichtbares Wahlkampfinstrument - laufen auf Hochtouren. 20 Staaten haben die Vorwahl zur Begrenzung der Kandidatenfelder um Monate vorverlegt – Amerika kann es nicht erwarten, George Bush endlich los zu werden.

Wie weit das Rennen um die Präsidentschaft fortgeschritten ist, ist allerdings bislang wohl noch nirgends so deutlich sichtbar, wie in amerikanischen Buchläden. Die Grabbeltische und Displayregale an den Eingängen überborden mit politischen Büchern. Da drängeln sich die Memoiren des zurückgetretenen CIA-Chefs George Tenet neben ein Traktat des Senators Charles Schumer darüber, wie das Amerika nach George Bush die schwindende Mittelklasse wiederbeleben musss. Gleich sieben Neuerscheinungen entwerfen Strategien für einen Wahlsieg der Demokraten. Am prominentesten ausgestellt werden jedoch die Kandidaten-Bücher – eine Genre für sich, das Autobiografie und Manifest in unterschiedlichster Abmischung und Qualität miteinander vermengt. Fünf neue dieser Werke sind auf dem Markt, sämtlich mit dem Konterfeit des Bewerbers auf dem Umschlag; unzählige ältere aus vorangegangen Kampagnen stehen neu aufgelegt daneben.

Ein Buch zu schreiben ist in den USA zu einer Standard-Wahlkampfmaßnahme für jeden ambitionierten Politiker geworden. Es wird abgehakt, wie die Produktion eines TV-Werbespots, wie die Wahlkampfreden in den Schlüsselstaaten, die Fernsehdebatten und seit neuestem der Blog. Die Verlagsbranche spielt willig mit: „Es ist für jeden Verlag ein unwiderstehliches Geschäft“, gab Verleger David Rosenthal jüngst gegenüber der New York Times zu. „Man bekommt jemanden mit einem hohen Bekannheitsgrad sowie eine Gratis PR-Kampagne frei Haus geliefert.“

Erstaunlicherweise ist für die Kandidaten das Geschäft ähnlich risikolos. Eigentlich müsste man meinen, dass ein gescheiterter Versuch, die eigene Biografie zu einem Bildungsroman zu formen und dabei obendrein ein kohärentes Weltbild zu artikuieren politisch einigen Schaden anrichten kann. Dem ist allerdings anscheinend nicht so. Das Buch von George Bush aus dem Jahr 2000 wurde etwa von der Kritik als „erweiterte Wahlkampfrede“ abgetan, man erfuhr weder etwas Substantielles über Bushs Persönlichkeit noch über seine politische Philosophie, soweit vorhanden. Dennoch wurde Bush gewählt.

Ein Grund dafür, dass die Kandidaten-Literatur zumindest wegen ihres Inhalts politisch folgenlos bleibt, ist, das sie ganz einfach nicht gelesen wird. Bei einer Umfrage der New York Times gaben 70 Prozent der Käufer zu, dass sie überhaupt nicht vor hätten, die Bücher, die sie gekauft haben, auch zu lesen, 15 Prozent waren noch unentschlossen. Nur 15 Prozent wollten tatsächlich wissen ob der Autor überhaupt etwas zu sagen hat und gegebenfalls was. Als Grund dafür, das Buch zu kaufen, wurde vor allem genannt, dass man seine politische Anhängerschaft demonstrieren wolle. Das Buch ist eine Art Fanartikel, wie die Mütze des favorisierten Baseballvereins.

Für die Kandidaten zahlt sich indes das Bücherschreiben beziehungsweise Schreiben-Lassen aus, obwohl kaum jemand die Werke liest. Denn um das Lesen geht es eigentlich gar nicht. Es geht darum, mit einem Foto in den Regalen der Buchhandelsketten und auf den Anzeigenseiten der Magazine präsent zu sein und anlässlich des Erscheinungstermins zu Radio- und Fernsehtalkshows eingeladen zu werden. Und es geht darum, das allgemeine Interesse an der eigenen Person zu eruieren. So entschloss sich Barack Obama nicht zuletzt deshalb zu seiner Kandidatur, weil seine „Gedanken zur Rückeroberung des amerikanischen Traumes“ mit anderthalb Millionen verkauften Exemplaren ein Bestseller war.

Dass ein Politiker ohne wahlstrategische Hintergedanken ein Buch schreibt ist man indes gar nicht mehr gewohnt. So mag dem früheren Vizepräsidenten Al Gore angesichts seiner unermüdlichen Autorentätigkeit niemand glauben, dass er keine Ambitionen hat, ins Weisse Haus einzuziehen. Nach seinen zwei wohlrecherchierten populärwissenschaftlichen Bestsellern zum Klimawandel wäre er nämlich für eine Kampagne hervorragend positioniert. Im Mai kommt Gore mit dem Buch „Angriff auf die Vernunft“ in die Buchhandlungen. In dem Buch beklagt Gore, wie es heisst, den Niedergang der Rationalität im öffentlichen Diskurs. Die Spekulationen, dass er anlässlich der Publikation doch noch seine Kandidatur bekannt gibt, wollen nicht abreissen. Dabei will Gore vermutlich einfach nur gelesen werden.

Sebastian Moll

Monday, June 11, 2007

Disney in Deutschland - Ein Theaterstück über in San Francisco über Hitler, Speer, Riefenstahl und Mickey Mouse

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1152475

Wednesday, June 06, 2007

Effizienz gegen Enthusiasmus - San Antonio gegen Cleveland im NBA Finale

Es knallten keine Sektkorken, es wurden keine Gesänge angestimmt – in der Kabine der San Antonio Spurs herrschte eher ruhige Zufriedenheit als rauschende Euphorie nach dem Gewinn der Western Conference am vergangenen Mittwoch. Schließlich hat man hier in Texas schon drei mal den NBA-Titel gewonnen - da wird ein Halbfinalsieg eher als ordentlich erledigter Job angesehen, denn als großer Triumph. Es würde aber auch gar nicht zum Stil der Mannschaft passen, übertrieben aus sich heraus zu gehen: Die Spurs sind Meister des Understatement, nüchterne Basketball-Geschäftsleute, die ohne viel Aufhebens tun, was zu tun ist, um erfolgreich zu sein.

In Cleveland ging es nach dem Gewinn des Eastern Conference-Titels gegen Detroit, dem Champion von 2004, da schon ganz anders zu. LeBron James, der 22-Jahre alte Superstar der Cavaliers, stand beinahe eine halbe Stunde lang im Confetti-Regen und streckte unermüdlich die Trophäe für das beste Team im Osten den atemlos jubelnden Fans entgegen. James hatte gegen Detroit die Anhänger des seit langer Zeit erfolglosen Clubs aus Ohio elektrisiert – nicht zuletzt mit seinem 48 Punkte-Auftritt in Spiel Nummer Fünf, bei dem er 29 der letzten 30 Punkte seines Teams schoß und Cleveland in der zweiten Verlängerung zum entscheidenden Sieg der Serie führte.

Die beiden Mannschaften, die ab Donnerstag den Titel um die US-Basketballmeisterschaft unter sich ausmachen, könnten vom Temperament her nicht unterschiedlicher sein. San Antonio ist unterkühlt, effizient und langweilig. Der Stil des Teams ist es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, verkörpert durch ihren lakonischen, wortkargen Kapitän Tim Duncan, der auch „Mr. Fundamental“ genannt wird. Duncan und die Spurs sind überaus effizient auf dem Court, die Fans begeistern sie hingegen nicht. Die Einschaltquote beim letzten NBA Finale mit Spurs-Beteiligung war eine der niedrigsten, seit Basketball im TV übertragen wird. „Sind wir überhaupt in den Nachrichten?“, fragte deshalb Spurs-Manager R.C Buford nach dem Sieg über Utah, schon daran gewöhnt, dass die Öffentlichkeit einfach nicht auf San Antonio achtet, egal wie gut die Mannschaft spielt.


Ganz anders sind da die Cavaliers. Ihr Kapitän LeBron James ist genau der Typ, auf den das amerikanische Publikum anspricht. Er kann den Mund nicht voll genug nehmen, lässt sich bereitwillig als den größten Spieler seit Michael Jordan feiern und hat es sich zum Ziel gesteckt, als erster Sportler der Welt eine Milliarde Dollar zu verdienen. Entsprechend unbescheiden ist er auf dem Platz – wenn er es vermeiden kann, gibt er den Ball nicht ab und es belastet ihn nicht im Geringsten, dass er seine Mannschaftskameraden zu Statisten degadiert. Auf dem Tattoo, das großfächig seinen Rücken bedeckt, steht „Chosen 1“ – der Auserwählte.

Die Fachleute bezweifeln allerdings, dass das außergewöhnliche Talent von James ausreicht, die Cavaliers zum Titel gegen die Spurs zu führen. James gegenüber steht nämlich als Kapitän ein Mann, der das Spiel in seinen zehn Profijahren nicht nur körperlich sondern auch intellektuell bis ins Letzte durchdrungen hat. Duncan kann seine Rolle auf dem Platz beliebig variieren, kann auftrumpfen oder sich zurücknehmen, flüssig zwischen Guard- und Forward-Position hin und her gleiten, je nachdem, wie die Situation es verlangt. Und er hat, anders als James, mit Tony Parker und Manu Ginobili zwei weitere Spieler der Extraklasse neben sich. Einige brilliante Momente wird James sich im Finale wohl trotzdem erspielen. Gewinnen werden aber aller Voraussicht nach die Routine und die Professionalität. Manche mögen das langweilig finden. Duncan und seine Spurs wird das jedoch weiterhin herzlich wenig jucken.

Sebastian Moll

Monday, June 04, 2007

Bauarbeiter der Erfahrung - Richard Serra am MoMa

Zu einem Anzug hat er sich nicht durchringen können, Richard Serra trägt ein legeres Schlabberjackett und einen leichten Sportpullover. Weiter geht sein Zugeständnis an die Konventionen einer Vernissage vor großem Publikum nicht, auch nicht, wenn es das große Museum of Modern Art in Manhattan ist, das ihn mit einer Retrospektive würdigt und ihn somit als einen der großen Künstler der Moderne kanonisiert. Am liebsten hätte der braungebrannte, für seine 69 Jahre auffallend fitte Künstler wohl auch heute wieder die Kluft getragen, mit der er in den vergangenen sechs Wochen hier am MoMa zugange war – einen Blaumann und einen Bauhelm.

Das ist der Aufzug, in dem Serra hier die Installation seiner Werke beaufsichtigt hat – die millimetergenaue Plazierung jener bis zu 30 Tonnen schweren Stahlplatten, aus denen im ersten Stock des Museums an der 53ten Strasse seine drei neuesten monumentalen Skulpturen zusammen gefügt wurden. Eine Aussenwand des Gebäudes wurde dafür entfernt, Strassen mussten abgesperrt und Kräne sowie LKW-Fahrer dirigiert werden. Am Ende rückte Serra sogar noch zusammen mit Bauarbeitern von Hand die Teile in ihre exakte Park-Position. All das machte Richard Serra allerdings höllisch Spass – als Bauleiter und Vorarbeiter fühlte er sich so richtig in seinem Element: „Hier die ganze Zeit alles zu überschauen, jedes Detail im Griff zu behalten, das finde ich spannend und aufregend“, sagte er während den Arbeiten einem Reporter.

Nicht, dass Richard Serra kein intellektueller Künstler wäre. Im Gegenteil – er ist eine der zentralen Figuren der New Yorker Avantgarde der 60er Jahre und somit dem Theoretisieren sogar ausgesprochen zugetan. So spricht er unangestrengt und natürlich über Dinge wie objektive und subjektive Zeitwahrnehmung, während er zwischen seinen drei neuen, ein ganzes Stockwerk des MoMa füllenden, Werken auf einem Klappstuhl sitzt. Behende und souverän hantiert er mit epistemolgischen Begriffen wie Antizipation und Erinnerung. Das Machen von Kunst sieht er jedoch trotz Allem als eher hemdsärmelige Tätigkeit. „Seine Bildhauerei“, schreibt Benjamin Buchloh im Katalog zur New Yorker Ausstellung, „war von Anfang an mit einer Ästhetik der Arbeit und der industriellen Fertigung verknüpft.“

Im rückblickenden Teil der Ausstellung am MoMa wird sehr schön deutlich, wie früh Serra bereits seine Tätigkeit als der eines Industriearbeiters ähnlich aufgefasst hat. Im fünften Stock des vor drei Jahren umgebauten Hauses sind Arbeiten von Serra aus den Sechziger Jahren zu sehen, als der Küsntler sich gerade im damals noch herunter gekommenen New Yorker Lagerhallen- und Industreiemechanikerviertel SoHo neben Kollegen wie Jasper Johns, Eva Hesse, Sol Le Witt, Barnett Newmann, Jasper Johns und Donald Judd nieder gelassen hatte. Serra sammelte Materialien wie Industriegummi oder Bleiplatten von der Strasse auf aber er ging weiter, als diese Materialien bloß in Duchamp-Manier per Ausstellung zum Kunstobjekt zu deklarieren. Er verwandelte sie in Objekte, die auf andere Gebrauchsgegenstände verwiesen oder daran erinnerten – Gummistreifen wurden zu Gürteln, er baute einen Futtertrog aus vulkanisiertem Kautschuk, überzog Stahltüren mit Fiberglas. Serra begnügte sich nicht damit, wie seine minimalistischen Kollegen, Industriegegenstände und -Materialien einfach aneinander zu reihen und auszustellen. Für ihn wurde erst dadurch Kunst daraus, dass er Hand anlegte.

Indem Serra etwa zur selben Zeit Ende der Sechziger begann, mit Stahl- und Bleiplatten Räume zu zerteilen und somit Raum- und Zeiterfahrungen zu orchestrieren, baute er seine Interpretation der Rolle des Künstlers als sich emanzipierender Industriearbeiter noch weiter aus. Serra hantierte in der gleichen Art mit den gleichen Materialien wie ein Industriearbeiter, aber nicht, um seriengefertigte Massenprodukte zu erzeugen, sondern um Erfahrungsräume zu schaffen.

Mit diesen Einblicken in Serras künstlerisch-intellektuellen Entwicklungsstand zu Beginn der Siebziger Jahre entlässt die MoMa-Retrospektive den Betrachter in das Hier und Jetzt. Man fährt mit der Rolltreppe hinunter zum Anbau auf der zweiten Ebene, in der Serra seine neuen, speziell für die MoMa-Ausstellung entworfenen Werke zeigt. An Serras Obelisk vobei, der im großen Foyer der ersten Etage dauerinstalliert ist, geht es in einen Anbau, der wirkt, als gehöre er gar nicht mehr zum Museum dazu.

Alles ist hier anders, als im Rest des Hauses. Der pädagogisch durch gestylte kunsthistorische Querschnitt durch die letzten 100 Jahre weicht plötzlich drei Werken, die sich jeglicher bequemen Einordnung widersetzen. Der Kurs „Moderne Kunst von Impressionismus bis abstrakter Expressionismus“ ist zu Ende, der Besucher ist der nackten, brutalen Präsenz von Richard Serras massiven Stahlgebilden ausgeliefert. Man wandert zwischen den drei mindestens drei Meter hohen, sich unvorhersahbar zueinander beugenden und gegeninander stemmenden Stahlplatten wie durch einen Irrgarten und verliert dabei jegliche verlässliche Matrix von Raum und Zeit . Die Galerie ist ein radikaler Gegenentwurf zum übrigen MoMa, das dem New York-Touristen und dem bildungsbeflissenen Sonntagsbesucher eine nachvollziehbare, lineare Geschichte der modernen Kunst wohlfeil anbietet. Die Anthologie weicht hier der Literatur, auf Serra muss man sich einlassen, man kann ihn nicht mittels einschlägiger Stichworte einsortieren.

Gerade im Kontrast zu der so ordentlich organisierten Kunsthistorie rundum wird hier klar, worum es Serra schon immer ging – nämlich, den Betrachter ganz auf sich selbst zurück zu werfen. Richard Serra ist ein bekennender Verehrer des amerikanichen Transzendentalphilosophen Ralph Waldo Emerson, der mit seinem Essay über die „Self Reliance“ (die Selbstverlässlichkeit) eine Art Manifest für ein genuin amerikanisches Denken verfasst hat. Beim Durchwandern von Serras Installation ist jene emersonische Kunst gefragt, sich alleine mit Hilfe des eigenen Erfahrungshorizonts durch das völlig Unbekannte voran zu tasten.

Mit den neuen Installationen in jenem Anbau, den der ehemalige MoMa Direktor Kirk Varnedoe bereits mit Serra im Hinterkopf auf die Tonnelast der Stahlkonstruktionen auslegen ließ, zeigt Serra, warum er sich seinen Platz unter den Großen der modernen Kunst verdient hat. Er hat es geschafft, im Zeitalter von Massenproduktion und Massenkommunikation den Betrachter zu einer unverstellten Kunsterfahrung zurück zu führen und daran zu erinnern, worum es bei der Rezeption von Kunst geht: Sicher Geglaubtes zu hinterfragen nämlich, und Vertrautes neu zu erleben. Dass Serra, um dieses Ziel zu erreichen, den Blaumann und den Helm anziehen und 550 Tonnen Stahl bewegen musste, demonstriert dabei nur, wie schwer es geworden ist, zum Unmittelbaren vor zu dringen. Ohne die Ärmel hoch zu krempeln, so die Lektion von Richard Serra, geht das jedenfalls nicht mehr.

Sebastian Moll