Monday, June 04, 2007

Bauarbeiter der Erfahrung - Richard Serra am MoMa

Zu einem Anzug hat er sich nicht durchringen können, Richard Serra trägt ein legeres Schlabberjackett und einen leichten Sportpullover. Weiter geht sein Zugeständnis an die Konventionen einer Vernissage vor großem Publikum nicht, auch nicht, wenn es das große Museum of Modern Art in Manhattan ist, das ihn mit einer Retrospektive würdigt und ihn somit als einen der großen Künstler der Moderne kanonisiert. Am liebsten hätte der braungebrannte, für seine 69 Jahre auffallend fitte Künstler wohl auch heute wieder die Kluft getragen, mit der er in den vergangenen sechs Wochen hier am MoMa zugange war – einen Blaumann und einen Bauhelm.

Das ist der Aufzug, in dem Serra hier die Installation seiner Werke beaufsichtigt hat – die millimetergenaue Plazierung jener bis zu 30 Tonnen schweren Stahlplatten, aus denen im ersten Stock des Museums an der 53ten Strasse seine drei neuesten monumentalen Skulpturen zusammen gefügt wurden. Eine Aussenwand des Gebäudes wurde dafür entfernt, Strassen mussten abgesperrt und Kräne sowie LKW-Fahrer dirigiert werden. Am Ende rückte Serra sogar noch zusammen mit Bauarbeitern von Hand die Teile in ihre exakte Park-Position. All das machte Richard Serra allerdings höllisch Spass – als Bauleiter und Vorarbeiter fühlte er sich so richtig in seinem Element: „Hier die ganze Zeit alles zu überschauen, jedes Detail im Griff zu behalten, das finde ich spannend und aufregend“, sagte er während den Arbeiten einem Reporter.

Nicht, dass Richard Serra kein intellektueller Künstler wäre. Im Gegenteil – er ist eine der zentralen Figuren der New Yorker Avantgarde der 60er Jahre und somit dem Theoretisieren sogar ausgesprochen zugetan. So spricht er unangestrengt und natürlich über Dinge wie objektive und subjektive Zeitwahrnehmung, während er zwischen seinen drei neuen, ein ganzes Stockwerk des MoMa füllenden, Werken auf einem Klappstuhl sitzt. Behende und souverän hantiert er mit epistemolgischen Begriffen wie Antizipation und Erinnerung. Das Machen von Kunst sieht er jedoch trotz Allem als eher hemdsärmelige Tätigkeit. „Seine Bildhauerei“, schreibt Benjamin Buchloh im Katalog zur New Yorker Ausstellung, „war von Anfang an mit einer Ästhetik der Arbeit und der industriellen Fertigung verknüpft.“

Im rückblickenden Teil der Ausstellung am MoMa wird sehr schön deutlich, wie früh Serra bereits seine Tätigkeit als der eines Industriearbeiters ähnlich aufgefasst hat. Im fünften Stock des vor drei Jahren umgebauten Hauses sind Arbeiten von Serra aus den Sechziger Jahren zu sehen, als der Küsntler sich gerade im damals noch herunter gekommenen New Yorker Lagerhallen- und Industreiemechanikerviertel SoHo neben Kollegen wie Jasper Johns, Eva Hesse, Sol Le Witt, Barnett Newmann, Jasper Johns und Donald Judd nieder gelassen hatte. Serra sammelte Materialien wie Industriegummi oder Bleiplatten von der Strasse auf aber er ging weiter, als diese Materialien bloß in Duchamp-Manier per Ausstellung zum Kunstobjekt zu deklarieren. Er verwandelte sie in Objekte, die auf andere Gebrauchsgegenstände verwiesen oder daran erinnerten – Gummistreifen wurden zu Gürteln, er baute einen Futtertrog aus vulkanisiertem Kautschuk, überzog Stahltüren mit Fiberglas. Serra begnügte sich nicht damit, wie seine minimalistischen Kollegen, Industriegegenstände und -Materialien einfach aneinander zu reihen und auszustellen. Für ihn wurde erst dadurch Kunst daraus, dass er Hand anlegte.

Indem Serra etwa zur selben Zeit Ende der Sechziger begann, mit Stahl- und Bleiplatten Räume zu zerteilen und somit Raum- und Zeiterfahrungen zu orchestrieren, baute er seine Interpretation der Rolle des Künstlers als sich emanzipierender Industriearbeiter noch weiter aus. Serra hantierte in der gleichen Art mit den gleichen Materialien wie ein Industriearbeiter, aber nicht, um seriengefertigte Massenprodukte zu erzeugen, sondern um Erfahrungsräume zu schaffen.

Mit diesen Einblicken in Serras künstlerisch-intellektuellen Entwicklungsstand zu Beginn der Siebziger Jahre entlässt die MoMa-Retrospektive den Betrachter in das Hier und Jetzt. Man fährt mit der Rolltreppe hinunter zum Anbau auf der zweiten Ebene, in der Serra seine neuen, speziell für die MoMa-Ausstellung entworfenen Werke zeigt. An Serras Obelisk vobei, der im großen Foyer der ersten Etage dauerinstalliert ist, geht es in einen Anbau, der wirkt, als gehöre er gar nicht mehr zum Museum dazu.

Alles ist hier anders, als im Rest des Hauses. Der pädagogisch durch gestylte kunsthistorische Querschnitt durch die letzten 100 Jahre weicht plötzlich drei Werken, die sich jeglicher bequemen Einordnung widersetzen. Der Kurs „Moderne Kunst von Impressionismus bis abstrakter Expressionismus“ ist zu Ende, der Besucher ist der nackten, brutalen Präsenz von Richard Serras massiven Stahlgebilden ausgeliefert. Man wandert zwischen den drei mindestens drei Meter hohen, sich unvorhersahbar zueinander beugenden und gegeninander stemmenden Stahlplatten wie durch einen Irrgarten und verliert dabei jegliche verlässliche Matrix von Raum und Zeit . Die Galerie ist ein radikaler Gegenentwurf zum übrigen MoMa, das dem New York-Touristen und dem bildungsbeflissenen Sonntagsbesucher eine nachvollziehbare, lineare Geschichte der modernen Kunst wohlfeil anbietet. Die Anthologie weicht hier der Literatur, auf Serra muss man sich einlassen, man kann ihn nicht mittels einschlägiger Stichworte einsortieren.

Gerade im Kontrast zu der so ordentlich organisierten Kunsthistorie rundum wird hier klar, worum es Serra schon immer ging – nämlich, den Betrachter ganz auf sich selbst zurück zu werfen. Richard Serra ist ein bekennender Verehrer des amerikanichen Transzendentalphilosophen Ralph Waldo Emerson, der mit seinem Essay über die „Self Reliance“ (die Selbstverlässlichkeit) eine Art Manifest für ein genuin amerikanisches Denken verfasst hat. Beim Durchwandern von Serras Installation ist jene emersonische Kunst gefragt, sich alleine mit Hilfe des eigenen Erfahrungshorizonts durch das völlig Unbekannte voran zu tasten.

Mit den neuen Installationen in jenem Anbau, den der ehemalige MoMa Direktor Kirk Varnedoe bereits mit Serra im Hinterkopf auf die Tonnelast der Stahlkonstruktionen auslegen ließ, zeigt Serra, warum er sich seinen Platz unter den Großen der modernen Kunst verdient hat. Er hat es geschafft, im Zeitalter von Massenproduktion und Massenkommunikation den Betrachter zu einer unverstellten Kunsterfahrung zurück zu führen und daran zu erinnern, worum es bei der Rezeption von Kunst geht: Sicher Geglaubtes zu hinterfragen nämlich, und Vertrautes neu zu erleben. Dass Serra, um dieses Ziel zu erreichen, den Blaumann und den Helm anziehen und 550 Tonnen Stahl bewegen musste, demonstriert dabei nur, wie schwer es geworden ist, zum Unmittelbaren vor zu dringen. Ohne die Ärmel hoch zu krempeln, so die Lektion von Richard Serra, geht das jedenfalls nicht mehr.

Sebastian Moll