Thursday, April 12, 2007

Die Show geht weiter - Der Jazz kehrt zurück nach Harlem

DIE ZEIT, 12. April 2007


Bob Cunningham ist tief über seinen Kontrabass gebeugt. Seine Augen sind geschlossen, die Finger seiner linken Hand fliegen über die Saiten, als wäre die Harlemer Jazzlegende 23 und nicht 73. Immer neue Ornamente und Modulationen für den Miles Davis Klassiker „So what“ entringt Bob seinem Instrument. „Yeahh“, entfährt es dem jungen Saxophonisten Sedric, der mit geschlossenen Augen dem Solo seines Kollegen lauscht und dabei mit der Stiefelspitze den Takt klopft. „Yeaaaaahhh“, stimmen die etwa 30 Zuhörer zu, die auf ihren Klappstühlen Knie an Knie sitzend zum Rhytmus hin und her wippen und Bobs Quartett bis auf Zentimeter zu Leibe rücken.

Cunningham huscht ein Lächeln über das Gesicht – das sind die Momente, die er liebt. „Einen direkteren Kontakt zum Publikum als hier gibt es nicht“, sagt er später, nach dem Konzert, während er zusammen mit Sedric, dem Sänger Rudel Drears und der Gastgeberin Marjorie Eliot im Halbdunkel von Majories spärlich beleuchteten und jetzt leeren Wohnzimmer sitzt und an einen warmen Apfel-Cidre nippt. Solche Momente, so Bob, ein hagerer schwarzer Mann mit ausdrucksvollen Gesichtszügen, erinnern ihn daran, warum er sich vor vielen Jahrzehnten dazu entschlossen hat, den dornigen Lebensweg eines Jazzmusikers zu gehen. Und sie sind der Grund, warum er jeden Sonntag wieder zu Marjoire kommt, um im Wohnzimmer ihres einst wohl eleganten aber dringend renovierungsbedürftigen Apartments an der 160ten Straße im nördlichen Harlem Hausmusik zu machen.


Für Jazzer ist diese Art des Musizierens die einzige Wahre – viel eher jedefalls als die exakt getimten 45 Minuten Sets in den teuren Jazzclubs des weißen Manhattan. Sie ist so alt wie der Jazz selbst: Hausmusik wurde schon auf den Samstagabend-Barbeques bei den Plantagen im Süden gemacht und später bei den berühmten Rent-Partys im Harlem der 30er Jahre, als es üblich war, sich Musiker ins Haus zu holen und gegen einen geringen Eintritt Parties zu veranstalten, um die Miete für den nächsten Monat zusammen zu kratzen. „Boogies, Skuffles, Shin-Digs oder Shake-Me-Downs“ hießen diese Parties. Und sie kommen wieder in Harlem.

Marjorie, eine spindeldürre schwarze Frau unbestimmbaren Alters mit schwarz-grau-roten, drahtigen Haaren, öffnet jeden Sonntag ihre Wohnung für Fremde, Freunde und Jazzfans. Die ehemalige Bühnenschriftstellerin fing mit den Sonntagskonzerten an, weil an einem Sonntag ihr Sohn gestorben war und sie Sonntags Musik und Menschen um sich herum haben wollte, damit sie nicht der Schwermut verfällt. Der Gedanke, ihre Melancholie mit solchen intimen Konzerten zu vertreiben, lag für Marjorie auf der Hand. Musik und Menschen im Haus zu haben war für sie von klein auf der Inbegriff des Lebens selbst – sie kannte das aus ihrer Kindheit im Ghetto in Philadelphia und vor allem aus den 50er und 60er Jahren in Harlem noch, als in dem Apartmenthaus an der Edgecombe Avenue auf dem Sugar Hill, in dem sie lebt, keine geringeren als Duke Ellington und Count Basie lebten und als, wie Marjorie sich erinnert, „immer irgendwer Jazz machte.“ Zu einem Konzert gehörten nicht mehr als zwei oder drei Musiker und eine Handvoll Zuhörer und es konnte jederzeit und überall passieren.

Nur eine Viertelstunde Fußweg von Marjories Apartment an der Edgecombe Avenue entfernt öffnet der Saxophonist Bill Saxton Freitagabends den Keller seiner Gründerzeitvilla an der 133ten Strasse, einer idyllischen, mit Bäumen bepflanzten Wohnstraße mitten im berühmtesten Schwarzenghetto der Welt. Der Raum hinter einer ganz gewöhnlichen Wohnungstür im Tiefparterre erinnert ein wenig an einen Partykeller – Barhocker stehen um eine Handvoll brusthohe Cocktailtische, die Wand ist mit bunten Partylichtern und Postern von Jazzgrößen wie Dizzy Gillespie und Charlie Parker behangen. Zehn, höchstens zwölf Leute passen bequem hier herein und sie müssen sich gegen die Wand drängen um nicht halb auf der Bühne zu sitzen. Schwarze Paare aus der Nachbarschaft und ein paar weiße Jazzliebhaber von Downtown haben sich ihr eigenes Bier und ihren eigenen Wein mitgebracht und geben sich bis drei Uhr am Samstagfrüh den kompromislosen Hardbop-Improvisationen Saxton’s und seiner drei begabten Mitspieler hin – einem Drummer, einem Pianisten und einem Bassisten, die , wie Bill sagt, alle zusammen nicht älter sind als er.

„Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass ich zwei Stunden gespielt habe“, sagt Bill, als er kurz nach Mitternacht Pause macht und sich an einem Tisch in der Ecke seines Kellers eine Portion Fisch mit Reis von einer Bude um die Ecke auf der Lenox Avenue genehmigt. Dabei grinst der glatzköpfige, kräftige Mann mit den dunklen Ringen unter den Augen sichtlich zufrieden. Sich so dem Flow der Improvisationen, dem Groove des Abends überlassen zu können ist der Luxus, den Bill an seinem eigenen Club wohl am meisten genießt.

„Bill’s Place“ nennt Saxton stolz seinen Kellerclub, mit dem er sich im letzten Drittel einer langen Jazzer-Karriere einen Traum erfüllt hat. Dass er den Club in Harlem und nirgendwo sonst eröffnet, stand für Bill dabei nie in Frage, obwohl er um die ganze Welt getourt ist und in wohl jedem Club in ganz New York gespielt hat. „Ich bin in Harlem geboren und aufgewachsen. Wenn ich nicht die Tradition des Harlemer Jazz fort führe – wer soll es denn sonst tun?“

Wie direkt er an die große Zeit des Harlemer Jazz anknüpft, stellte Bill erst fest, nachdem er das Haus an der 133ten gekauft hatte. Ein Jazzhistoriker brachte ihn erst darauf, dass die 133te in den 20er Jahren als „Swing Street“ bekannt war und das Zentrum der bekannten Jazzwelt darstellte. Unter Duldung der stets großzügig eingeladenen und bewirteten Polizisten war hier während der Prohibition ein Speakeasy am anderen – Privatclubs, in denen Alkohol ausgeschänkt und gestrippt wurde und in denen die ganze Nacht zu Jazz getanzt wurde. Dort, wo heute Bill’s Place ist, war damals das legendäre „Nest“ in dem Willie „The Lion“ Smith, Billie Holliday und Duke Ellington sich die Türklinke in die Hand gaben, bevor der Jazz nach dem Krieg nach Downtown abwanderte und sich an der 52ten Strasse ansiedelte.


Doch auch nachdem die 52te Strasse mit den berühmten Clubs Birdland, Carousel oder Onyx als Hauptstrasse des Jazz der Swing Street den Rang ablief, behielt der Jazz in Harlem noch lange seine eigentliche New Yorker Heimat. „Als ich jung war“, erinnert sich Bill an die 50er Jahre, „ist man auf dem Fußweg von der 145ten Strasse zur 125ten an mindestens einem Dutzend Clubs vorbei gekommen. Ich habe damals als Zeitungsjunge gearbeitet und auf der Lenox Avenue war ein Plattenladen am anderen, die Lautsprecher an der Außenseite angebracht hatten. Man konnte damals in Harlem gar nicht anders, als mit dem Jazz aufzuwachsen.“ Die Größen der Szene wie John Coltrane, Gillespie oder Thelonius Monk ließen es sich nicht nehmen, nach ihren vornehmen Engagements für die weiße Society Downtown nach Harlem zu kommen und in Clubs wie dem erst jüngst wieder eröffneten Minton’s Playhouse für das eigene Stadtteilpublikum eine Zugabe zu geben. Die Uptown Clubs waren das, was man hier „Hangs“ nennt – Orte, wo die Leute aus der Nachbarschaft regelmässig „rumhängen“, wo jeder jeden kennt und wo der Musiker das Gefühl hat, für die Familie zu spielen; wo man entspannen und einfach gehen lassen konnte und wo genau deshalb oft die großartigsten Improvisationen entstanden.

Aber dann kamen die 70er Jahre und mit ihnen die Drogen und die Bandenkriege. Harlem verslumte, das Nachtleben starb. Kein Weißer traute sich mehr über den Äquator der 110ten Strasse hinaus und die schwarze Mittelschicht wanderte in die Vororte ab. Der Jazz wurde vom Hip Hop abgelöst. Die schwarzen Jazzmusiker spielten entweder in den neuen Clubs im Greenwich Village oder, wie Bill, in Europa.

Doch seit Beginn der 90er Jahre ist Harlem wieder im Kommen und mit dem Stadtteil lebt auch der Jazz wieder auf. Ein knappes Dutzend Clubs gibt es mittlerweile und die New Yorker Jazzszene orientiert sich zunehmend wieder nach Norden. Im St. Nick’s Pub an der 148ten Straße, dem ersten Club, der wieder eröffnete, sagt Bill, ist das Niveau der Jam Sessions so hoch, dass sich nur die besten Musiker von Downtown trauen, sich dort „die Ellbogen zu reiben“ wie der musikalische Wettbewerb im Jazz-Slang heißt.

Erstaunlich dabei ist, dass es reichlich Nachwuchs gibt. Regelmässig sieht man, wie Musiker von Mitte 20 mit den älteren wie Marjorie, Bob und Bill, die die goldenen Zeiten des Harlemer Jazz noch selbst erlebt haben, zusammen spielen. Oft stehen bei den wilden, allnächtlichen Jams im St.Nick’s Pub – einer ziemlich herunter gekommen Kellerpinte mit gerade einmal sechs Tischen und einer Bar – junge Trompeter oder Saxophonisten auf, denen man mit ihrer Hängehosen- und Wolmützenmontur eigentlich eher 50 Cent als John Coltrane zuordnen würde. Und Montagsabends sitzt in dem erst 2000 restaurierten legendären Art-Deco Club Lenox Lounge die 25 Jahre alte Luciana aus der Bronx am Schlagzeug und schlägt so lässig den Rhythmus, das man sofort merkt – sie hat ihr Leben lang nichts anderes getan. „Ich bin mit Jazz aufgewachsen“, bestätigt sie dann auch, „mein Vater hat Schlagzeug gespielt, meine Mutter Saxophon.“

Auch wenn es in Harlem lange Zeit keine Clubs mehr gab und auch wenn Hip Hop scheinbar alles überschattete – der Jazz ist in der schwarzen Community nie gestorben. „Jazz gehört einfach zu unserer Kultur“, sagt etwa Celeste Supp, die erst das St. Nick’s Pub geleitet und später das Minton’s an der 118ten Strasse nach 30 Jahren wieder eröffnet hat. „Das ist wie Grünkohl“, vergleicht die schillernde einäugige Promoterin mit dem riesigen roten Rasta-Kopf den Jazz mit einem der traditionellen schwarzen Südstaaten-Gerichte, die es in Harlem an jeder Ecke gibt. Nathan Lucas – der Bandleader des Orgel-Trios, in dem die junge Luciana Montags trommelt, erzählt: „Bei uns zu Hause gab es immer Jazz . Ich habe in den 80er Jahren zwar auch eine Weile den Hip Hop-Trend mit gemacht. Aber mit der ganzen Verherrlichung von Gewalt und Kriminalität wollte ich nichts mehr zu tun haben. Deshalb habe ich mich wieder auf den Jazz besonnen.“

Dass es jetzt wieder Möglichkeiten gibt, in Harlem zu spielen, ist für Nathan und für die meisten anderen Musiker auf der Harlemer Jazz-Szene ein großes Glück. Patience Higgins, der Bandleader des „Sugar Hill Quartett“, das jeden Montag in der Lenox Lounge und jeden Mittwoch im Minton’s spielt sagt: „Wenn man hier auf der Bühne steht kann man gar nicht anders, als daran zu denken, wer vor einem alles hier gestanden hat – Monk, Gillespie, Parker. Es ist schon etwas ganz besonderes.“ Ausserdem, so Higgins, sei in einem Harlemer Club zu spielen, eben so, wie für die Familie zu spielen.

Von der Wand hinter der Bühne des Minton’s prangt das Originalwandgemälde von 1948 aus dem alten Club. Es zeigt eine Gruppe von übenden Jazzern in einem winzigen Schlafzimmer. Eine Dame ist auf dem Bett eingeschlafen, der Schlagzeuger spielt mit einem Kehrbesen auf einer Zeitung. Das ist das Vorbild, der Gedanke des Harlemer Jazz – Musik nicht als Veranstaltung, sondern immer und überall. Und das ist auch heute wieder der Geist des Harlemer Jazz in den neuen und alten Clubs, den Cafes mit ihren Nachmittagskonzerten und den halbprivaten Wohnungsgigs.

Sonntagsabends beispielsweise trifft sich die Szene im Clubhaus eines Kriegsveteranenvereins an der 132ten Strasse. Der „American Legion Post“ ist ein Kellerraum mit fünf Tischen und einer Theke, an der ältere schwarze Männer im Anzug und mit Armeemützen sitzen. In der kleinen Küche in der Ecke steht ein Koch in weißer Uniform und bereitet riesige Teller mit Hünchen, Reis und Bohnen im Harlemer Stil zu. Nachdem um zehn die Band angefangen hat, füllt sich der Raum jedoch nach und nach mit Musikern und Fans aus der ganzen Stadt. Viele haben Instrumente dabei, spielen zwischendurch ein paar Nummern, bekommen einen Solo und übergeben dann an den nächsten. Wer zur Band gehört und wer nicht, wird bald einerlei, die Musik gehört allen im Raum. So geht das weiter, bis in den Morgenstunden, so lange die Improvisationen tragen. „Wir feier hier jeden Sonntag ein Party“, sagt der australische Gitarrist JC, der seit 10 Jahren in Harlem lebt und schon ebenso lange jeden Sonntag in die American Legion kommt. Eine Party und kein Konzert. Jazz als reiner Vortrag, als hohe Kunst ist eben kein richtiger Jazz. Jazz ist vor allem Kommunikation und Gemeinschaft. Und das versteht man nördlich der 110ten Strasse noch.

Info: Harlemer Jazz-Clubs

Big Apple Jazz/EZ’s Woodshed
2236 Adam Clayton Powell Jr. Blvd (131ste Straße) Tel.: 212 283 5299.

EZ’s ist der perfekte Ausgangspunkt, um Harlemer Jazz zu erkunden. Das kleine Cafe hat bereits nachmitags geöffnet und ist Treffpunkt und Info-Börse der Szene. Musiker spielen hier zum Kaffee und werben damit für ihre Abendkonzerte. Überall liegen die Terminlisten der Clubs und Veranstaltungen aus und der Besitzer von EZ’s, Gordon Polatnick, bietet sogar private Führungen durch die Harlemer Jazzszene an. Auf seiner website gibt es eine Liste von Clubs und Jazzveranstaltungen in Harlem: www.bigapplejazz.com


American Legion Post
248 West 132te Strasse 212-283-9701

Kostenslose Jam Session am Sonntagabend ab 7 Uhr im Clubhaus eines Veteranenvereins. Halb Familienfeier, halb Avantgarde-Jam, auf jeden Fall authentisch Harlem.

Bill’s Place

148 West 133te Straße, zwischen Lenox und A.C. Powell Blvd., 212 281 0777

Harlemer Jazzlegende Bill Saxton lädt Freitagsabends ab 10 Uhr in seinen Keller zu intimen Jam Sessions. Vorher anrufen und reservieren und Alkohol selbst mitbringen.

The Lenox Lounge
288 Lenox Avenue, zwischen 124ter und 125ter Straße

Seit der Renovierung vor fünf Jahren ist die Art-Deco Lounge wieder einer der elegantesten Jazz-Clubs in New York. Alles ist wieder so wie in den 20er Jahren, als Billie Holiday hier gesungen hat.

Minton’s Playhouse
210 West 118te Straße, zwischen 7. und St. Nicholas Avenue

Wie die Lenox Lounge einer der legendärsten Harlem Clubs. Galt als Geburtsstätte des Bebop und hat nach 30 Jahren vor einem Jahr wieder eröffnet. Konzerte gibt es jeden Abend ab neun Uhr.

Parlor Jazz bei Marjorie Eliot
555 Edgecombe Avenue, Ecke 160te Straße Apartment 3F

Marjorie Eliot öffnet jeden Sonntag ihre Wohnung im berühmten 555 Apartmenthaus, in dem schon Duke Ellington gewohnt hat, für Hausmusik. Die Konzerte beginnen ab 4 Uhr und sind für jedermann offen. Pünktlich erscheinen -.der Platz ist knapp.

St. Nick’s Pub

773 St. Nicholas Blvd, Ecke 149te Straße, Tel.: 212 283 9728

Das St. Nick’s hat die Renaissance des Harlemer Jazz vor 15 Jahren ausgelöst. Die Atmosphäre ist kreativ und energiegeladen – jeden Abend treffen sich einige der besten jungen und älteren Jazzer der Stadt hier um bis in die Morgenstunden zusammen zu improvisieren und sich aneinander zu messen. Authentischer kann ein Jazzerlebnis nicht sein. Eintritt frei.

Showman’s
375 West 125te Straße, östlich der Morningside Avenue, Tel.: 212 864 8941

Traditionsreicher Harlemer Club, in dem schon Lionel Hampton und Duke Ellington gespielt haben. Intime Atmösphäre, abendliche Vorstellungen mit den üblichen Harlemer Lokalgrößen ab halb neun bis spät in die Nacht

Thursday, April 05, 2007

Fremde in der Küche

Die horrenden Mieten in der Stadt zwingen immer mehr New Yorker, immer länger in Wohngemeinschaften zu leben.

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http://www.fr-online.de/in_und_ausland/hintergrund/?em_cnt=1105784&sid=a9ee34132cf9465c1e89ecf2910051b4