Friday, January 19, 2007

Stadtmauer oder Wäscheleine - Wohne ich in Manhattan?

Stadtmauer oder Wäscheleine:
Wohne ich überhaupt in Manhattan?

Bislang war ich mir bislang immer relativ sicher, dass ich in Manhattan wohne. Jetzt habe ich gelernt, dass das Ansichtssache ist.

Die rund 16,000 orthodoxen Juden, die zwischen den beiden Flüssen und zwischen 125ter und 55ter Straße leben, würden beispielsweise behaupten, dass sie ihren eigenen Haushalt bewohnen – auch wenn dieser beinahe die halbe Insel umfasst und sie ihn mit einer halben Millionen Goyem wie mir teilen. Und wer ihnen versucht das auszureden, dem können sie sowohl die Außenwände dieses Haushalts als auch den Mietvertrag dafür zeigen.

Die Wände bestehen aus einem Seil, das sich von Laternenmast zu Laternenmast rund um die etwa 16 Quadratkilometer der größten New Yorker Immobilie spannt. Wer nichts davon weiß, der wird die simple Wäscheleine für eine Strom- oder Telefonleitung halten, wenn sie ihm überhaupt auffällt. Wenn man erst einmal darauf geeicht ist, sieht man sie jedoch überall.

Die Miete des Hauses beträgt einen Dollar, der Mietvertrag mit der Stadt läuft über 99 Jahre. Das haben die orthodoxen Gemeinden 1999 ausgehandelt. Im kommenden Jahr wird der Haushalt um noch einmal ca. 15 Quadratkilometer in Richtung Süden bis zur Houston Street vergrößert.

Das ganze ist eigentlich ein Trick, um die strengen talmudischen Gebote zu unterwandern, denen sich die orthodoxen Juden New Yorks unterwerfen müssen. Am Sabbath dürfen sie eigentlich nur innerhalb der Mauern dieses „Eruv“ genannten erweiterten Haushalts bestimmten Verrichtungen nachgehen – Hunde an der Leine führen, Kinderwagen schieben, Schlüssel tragen beispielsweise.

Der Talmud gebietet weiter, dass die Bewohner eines Eruvs, eine „symbolisch vereinigte Einheit“ zu bilden haben. Davon wissen freilich weder die nordindischen Taxifahrer an der Fifth Avenue, noch die muslimischen Straßenhändler an der 125ten Straße etwas, geschweige denn die schwarzen Frauen, die am Sabbath wie die Heuschrecken auf den Großmarkt am Hudson herabstürzen.


Auf den Kompromiss, dass nicht jeder Bewohner des Eruv ihn versteht oder achtet, lassen sich die Juden allerdings ein. Schließlich sind sie auch New Yorker und wissen deshalb, dass sich jeder Mitbürger im Geist sein eigenes New York baut. Das Eruv ist eigentlich keine Absonderlichkeit. Im Gegenteil - jeder New Yorker hat in irgend einer Form sein eigenes Eruv, mit eigenen Grenzen, einer eigenen Geographie und eigenen Regeln. Es gibt nicht ein New York, es gibt Unzählige, die sich überlagern. Was für den einen eine Art Stadtmauer ist, ist eben für andere nur eine Wäscheleine. So lange mit der Leine keine andere Version der Stadt gestört wird, ruft sie bestenfalls ein amüsertes Schulterzucken hervor. Gegen das Manhattaner Eruv gab es etwa bislang nur eine einzige Bewschwerde. Eine ältere Dame fühlte durch die Leine den Blick aus ihrer Wohnung über den Hudson gestört. Ihr konnte geholfen werden – die Leine wurde einfach ein Stück niedriger gehängt.