Tuesday, January 02, 2007

Sylvester in Harlem - Im Herz der Finsternis

Ich lebe jetzt schon beinahe sieben Jahre in New York und doch kommt es ab und zu noch vor, dass ich mich aufführe, wie ein ignoranter Tourist. Wie etwa dieses Jahr an Sylvester.

Die New Yorker Standard Restaurant-Gedecke für 130 Dollar aufwärts waren von meinem Jahresendbudget nicht mehr gedeckt, die Preise für Jazz- oder Klassikkonzerte ab 60 Dollar kamen mir ebenfalls überteuert vor und mich vor irgendeinem Club von einem Türsteher abmustern zu lassen, ob ich auch Hip genug bin, um an der Jugendtazveranstaltung hinter den Samtseilen teilzunehmen, kam mir auch nicht sonderlich attraktiv vor. Deshalb beschloss ich in die Kirche zu gehen.

Ein Blick in die Zeitung ergab keine sonderlich große Auswahl an Jahresendgottesdiensten, wie sie sowohl im katholischen als auch im evangelischen Mtteleuropa üblich sind. Die meisten Mitternachtsgottesdienste fanden in Harlem statt, also suchte ich mir die First Abyssinian Baptist Church aus, die wohl berühmteste und traditionsreichste Gospel-Kirche nördlich der 110ten Strasse.

Damit, dass ich wirklich der einzige Weisse in dem prachtvollen Steinbau aus den 20er Jahren an der 138ten Strasse bin, hatte ich ja gerechnet. Das Flugblatt, das ein eher strenger Kirchendiener im Frack mir mit weißen Handschuhen am Eingang reichte, ließ mich jedoch ein wenig ins Schwitzen geraten. Schwarze Gemeinden in den USA, stand da geschrieben, bieten an Sylvester seit dem 1. Januar 1863 Gottesdienste an. Der Grund für die Feier damals war, dass um Mitternacht die Sklaverei beendet wurde. Ich wohnte also einem Fest bei, das das Ende der Unterjochung durch den weißen Mann beging und kam mir deshalb reichlich deplaziert vor.

Aber jetzt war ich halt schon einmal hier und quetschte mich ein wenig steif und verkrampft auf den mir ausgesprochen freundlich zugewiesen Platz in dem restlos überfüllten Gotteshaus. Und als die überaus elegant gekleideten Damen rechts und links von mir mich nicht nur höflich, sondern herzlich begrüßten, war mir schon ein wenig leichter. Ich fühlte mich nicht mehr ganz so sehr als Enkel von Sklavenhaltern, sondern mehr als Freund, der sich gemeinsam mit den Betroffenen über das Ende der Entmenschlichung der Afro-Amerikaner vor 143 Jahren freut.

Die Zeremonie konnte beginnen – ich fing an, mich auf den Gospel-Chor und eine stimmungsvolle Andacht in einer exotischen Umgebung zu freuen. Doch als zu Beginn einzelne Gemeindemitglieder aufstanden und ekstatisch von ihren Erweckungserlebnissen berichteten , dämmerte mir, dass ich hier nicht nur aus rassischen Gründen deplaziert bin. Die Abyssinian Church ist eine Baptisten-Gemeinde und die amerikanischen Baptisten sind der Inbegriff des evangelikalen Fundamentalismus. George Bush und sein spiritueller Mentor Billy Graham sind Baptisten und das baptitische Glaubenssystem lässt Bush glauben, dass er einen direkten Auftrag von Gott hat, die Welt vom Bösen zu befreien. Ich war also gleich im doppelten Sinn in das Herz der Finsternis getappt.

Kurioserweise fühlte ich mich mit dem Fortgang des Gottesdienstes zunehmend wohl dort. Die Naivität, mit der die Gemeindemitglieder von íhren persönlichen Offenbarungen im vergangenen Jahre berichteten hatte etwas durchweg Rührendes. Der Gospel Chor mit seinen extravaganten, afrikanisch inspirierten Gewändern in satten hellen Farben von Lila bis Zitronengelb war nicht nur optisch mitreißend. Und der Überzeugungskraft der feurigen Predigt von Reverend Butts, der sich rhetorisch kunstvoll in eine leidenschaftliche Glaubensrage hinsteigerte, konnte man sich nur schwer entziehen. Die simple Botschaft der Predigt war ebenso klar wie schön – befolge im neuen Jahr die Gebote Gottes, so gut, wie es Dir eben gelingt. Jesus steht Dir dabei zur Seite, er ist Dein gnädiger Freund, er liebt Dich und verzeiht Dir.

Mal ehrlich – bei aller Skepsis, rationaler Abgeklärtheit und tiefem Säkularismus – wer hätte nicht gerne einen gnädigen Heiland als persönlichen Freund, mit dem man sich unterhalten kann, wenn man es braucht, der immer für einen da ist und der einem Trost und Mut spendet. Der amerikanische Evangelikalismus erschien plötzlich gar nicht mehr so abwegig – zumindest wurde die Attraktion der Konfession nachvollziehbar und der Grund, warum es in den USA beinahe 19 Millionen Baptisten gibt. Insbesondere, wenn man dabei die Geschichte der schwarzen Unterdrückung im Hinterkopf hat und der dringende Bedarf an Trost und Mut in der schwarz-amerikanischen Community. Bevor die Watch Services zu Neujahr nach 1863 die Befreiung aus der Sklaverei zelebrierten, feierten die Sklaven im Süden an Sylvester nicht selten das letzte Beisammensein ihrer Familien. Am ersten Januar machten die Sklavenhalter Inventur und verkauften das Personal, das sie nicht mehr brauchten – auch wenn Brüder und Schwestern, Mütter, Väter, Tochter und Söhne zurück blieben. Wem ist es zu verdenken, in einer solchen Lage an einen persönlichen und gütigen Gott zu glauben, der einem hilft, den nächsten Tag, die nächste Woche, das nächste Jahr zu überstehen.

Was ich im Gespräch mit aufgeklärten Linksintellekutellen vermutlich nie zugeben werde – als ich mit 1000 Harlemer Schwarzen um Mitternacht Hand in Hand für das neue Jahr betete und den Umstehenden dann, in Menschlichkeit vereint, um den Hals fiel, war ich zutiefst gerührt. Es war mehr, als nur die Achtung vor der Gläubigkeit dieser Menschen, die mir Schauder über den Rücken jagte. Es war ein Wunsch, wie sie zu wissen, dass es einen guten und gerechten Heiland gibt, der über einen wacht, ein beinahe primitver Wille zu Gnosis. Es packte mich der Neid, dass mir eine solche Gläubigkeit nicht gelingen mag.

Zugleich wurde mir klar, dass George Bushs und Billy Grahams Version dieser Gläubigkeit derartige Kraft und Tiefe nicht besitzt; dass der zeitgenössissche, politisierte, konservative Fundamentalismus eine Bastardisierung und Vulgarisierung, eine Karikatur dieser Gläubigkeit ist, dieser „amerikanischen Gnosis“, wie der Kulturwissenschaftler Harold Bloom die konfessions-übergreifende Form speziell amerikanische Spiritualität einmal nannte. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass auch nur einer der Anwesenden in der Abyssinian Baptist Church an der 138ten Strasse die Republikaner wählen würde. Oder dass der Reverend Butts George Bush unterstützen würde. Und plötzlich erschien es mir als Tragödie, dass der bewegende Kern der amerikanischen Religiosität von den Bushs und Billy Grahams des Landes korrumpiert worden ist.

So ging ich mit zwei erschütterten Vorurteilen und dennoch – oder vielleicht deshalb - beseelt und beschwingt ins neue Jahr. Das eine: dass die Opfer der Sklaverei auf die Rasse ihrer einstigen Peiniger pauschal zornig sind. Sie sind es nicht, sie können differenzieren und ihre Herzen ihrem unmittelbar Nächsten öffnen, gleich welcher Rsse er angehört. Der Rassismus wird nicht umgekehrt, obwohl das ausgesprochen veständlich wäre. Zweitens – dass die amerikanischen Evangelikalen dumm und gefährlich sind. Im Gegenteil – recht verstandener Baptismus mag naiv sein, aber er ist gewiss nicht banal und bestimmt nicht fanatisch. Jedenfalls nicht an der 138ten Strasse in Harlem.