Thursday, November 30, 2006

Der amerikanische Künstler als Rebell - Betrachtungen beim Joggen am Hudson

Von George Washington bis Billy the Kid, von Davy Crokett bis Bonnie and Clyde – Rebellen und Gesetzlose sind in Amerika nicht selten ikonische Figuren und Helden. Schließlich basiert die Gründung Amerikas auf einer Gesetzlosigkeit. Sie verkörpern die unbeugsame Freiheit des Individuums, ihrerseits so etwas wie eine Nationalreligion. Es ist schon beinahe Bürgerpflicht hier, nach seiner Facon glücklich zu werden, auszuleben, was in einem zur Gestaltung drängt und sich daran durch nichts und niemanden hindern zu lassen. Schon gar nicht durch den Staat.

Wenn ich am Ufer des Hudson River joggen gehe, erlebe ich diesen rebellischen Geist jedesmal aus der Nähe. Als ich vor zwei Jahren auf die Westseite Manhattans zog und anfing, regelmässig am Ufer zwischen 96ter und 125ter Strasse entlang zu laufen, fielen mir aus dem Augenrand bizarre Gebilde aus Holz auf, die dort in den Befestigungssteinen der Uferpromenade stecken. Sie waren ganz offensichtlich von Menshenhand dort hin gebaut worden – so kunstvoll konnte keine Flutwelle das Treibholz zusammenstecken.

Nach und nach schaute ich mir diese Gebilde genauer an und empfand sie zunehmend als wunderschön. Die mannshohen Treibholzskulpturen, manchmal durch anderes Treibgut wie Dosen, Taue und Reifen ergänzt, bildeten einen formidablen Kontrast zu den massiven Stahl- und Betonstrukturen, wie etwa die George Washington Bridge, die man in New York ständig im Hintergrund sieht. Ausserdem hatten sie etwas wunderbar Geheimnisvolles, beinah Mystisches. Diese Qualität wurde dadurch verstärkt, dass sich die Gebilde ständig veränderten. Jedes Mal, wenn ich vorbei kam, war eines weg und ein neues wieder da, bestehenden war oft etwas weg genommen oder hinzu gefügt worden.

Offenbar fielen die Skulpturen auch anderen Leuten auf, denn bald fand ich in der Zeitung einen Artikel darüber. Offenbar sind es Werke eines anarchisch veranlagten Bildhauers, der nächtens das Treibgut sammelt und Skultpuren daraus macht. Die Parkbehörde hingegen kommt gewissenhaft ihrem Auftrag als Ordnungsmacht nach und reißt diese ungenehmigten Verunstaltungen immer wieder ab.

Ironischerweise veranstaltete dieselbe Behörde in diesem Sommer eine Aktion „Kunst am Fluss“, bei der sie für viel Geld Landschaftskunst in den Grünstreifen am Hudson stellen ließ. Einige der Werke waren pfiffig, andere weniger, keines gefiel mir jedoch so gut, wie diejenigen des wilden Bildhauers. Dessen Holzarbeiten wurden jedoch weiterhin regelmässig wieder abgerissen.

Die Sommeraktion ist nun vorbei und wenn ich abends joggen gehe, ist es jetzt dunkel. Die bunte Beleuchtung der Washington Bridgle funkelt auf dem manchmal träge dahin fließenden, manchmal sich heftig wogenden Gewässer und die Skulpturen bilden einen unheimlichen Schattenriss im Vordergrund. Ich freue mich daran und würde gerne dem Künstler einmal für seine Beharrlichkeit danken. Wenn ich die in grünen Jacken uniformierten Ordnungshüter beim Laubkehren oder beim reinigen der Spielplätze sehe, überkommt mich hingegen jedesmal ein wenig Zorn. Andererseits sind sie ja der Motor für die Schaffenskraft meines unbekannten Freundes. Wieder etwas über Amerika gelernt, denke ich mir dann, während ich durch die Dunkelheit trabe und bei jeder Gestalt, die mir da unten begenet, schaue, ob sie jetzt vielleicht gleich anfängt, Treibholz zu sammeln.