Wednesday, October 11, 2006

Schock in New York: Flugzeug rammt Wolkenkratzer

New York. Hal Cohose tippelt unruhig von einem Bein auf das andere und die Worte kommen nur als nervöses Stottern über seine Lippen. Der hagere, etwa 60 Jahre alte Mann steht sichtlich unter Schock. Es ist kurz vor fünf Uhr an einem verregneten Mittwochnachmittag in Manhattan und Cohose musste vor zwei Stunden aus unmittelbarer Nähe dabei zusehen, wie ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer donnert. Ein Sportflugzeug hatte ein 50-geschössiges Apartmenthaus auf der Upper East Side gerammt und der Anblick fuhr Cohose, wie vielen New Yorkern nur für fünf Jahre nach dem 11. September, tief in die Glieder: „Das war mir eindeutig zu nahe“, sagt Cohose, während er sich mit seiner Frau unter einem Vordach auf der 74ten Strasse vor dem Regen schützt und darauf wartet, dass er seinen Wagen aus der rund um die Unglücksstelle gesperrten Zone befreien kann.

Cohose war um kurz vor 15 Uhr am Mittwoch mit seiner Frau Barbara bei einem Arzttermin, als direkt gegenüber der Praxis die Maschine des Baseball-Stars Cory Lidle in das 40te Stockwerk des schmucklosen „Belaire“-Wohnhochhauses an der 72ten Strasse rumste. „Es war eine mächtige Explosion“, erinnert sich Cohose, „gefolgt von einem noch schlimmeren Donnern, als die Gebäudetrümmer Sekunden später auf der Strasse aufschlugen.“ Seine Frau, die den Gips von ihrem gebrochenen Fuß entfernt bekommen sollte, fühlte sich sofort an das Attentat des 11. September 2001 erinnert: „Ich hatte fürchterlich Angst.“

Die Furcht, dass erneut Manhattan die Zielscheibe von extremistischen Kamikazefliegern geworden war, zerschlug sich jedoch bald. Schon eineinhalb Stunden nachdem das Propellerflugzeug das Hochahus getroffen hatte, sprach sich rund um die Unglücksstelle herum, dass es sich nicht um einen Anschlag, sondern um den Unfall eines Hobbypiloten gehandelt hatte. Cory Lidle, der mit den New Yorker Yankees erst am Sonntag aus dem Kampf um die US – Baseballmeisterschaft ausgeschieden war, hatte Kontrolle über das Flugzeug verloren, mit dem er etwa eine Viertelstunde zuvor vom Privtaflughafen Teterboro in New Jersey gestartet war. Nach einem Rundflug um die Freiheitsstatue und den East River hinauf wich die Maschine plötzlich vom Kurs ab und zielte, entgegen aller Luftraumbestimmungen auf Manhattan zu. Warum Lidle, der zusammen mit seinem Fluglehrer an Bord war, den Kurs nicht halten konnte, war am Mittwochabend noch unklar. Experten spekulierten, dass der relativ unerfahrene Pilot Lidle im dichten New Yorker Flugverkehr die Nerven verloren hatte.

Nachdem klar wurde, dass sich kein erneutes Terrorattentat zugetragen hatte, verzogen sich bald die Dutzenden von Hubschrauber wieder, die am Nachmittag wie Unheilsboten über Manhattan gedräut hatten. Auch die Feuerwehrzüge, die in Battalionsstärke angerückt waren, waren zum Großteil zum Sonnenuntergang wieder zu ihren Stationen zurück gekehrt. An Verlusten waren nur die beiden Insassen des Flugzeugs zu betrauern. Das Wohnhaus, in dem wie durch ein Wunder nur fünf Menschen leicht verletzt wurden, wurde noch am Abend von der Polizei wieder für die Bewohner geöffnet.

Nur zwei Strassen entfernt, an der Lexington Avenue, war von einer Katastrophe schon um sieben Uhr kaum mehr etwas zu spüren. Die Bars und Restaurants entlang der First Avenue waren wie jeden Abend voll besetzt; die Pendler drängelten sich wie jeden Tag im Berufsverkehr in die U-Bahn Linie 6, die an der Ostseite in Richtung der nördlichen Vororte fährt. „Hat Einigen einen ganz schönen Schreck eingejagt“, sagte ein Geschäftsmann lapidar und gelassen, bevor er sich an der 86ten Strasse entspannt in den Feierabend verabschiedete. Den kurzen urspünglichen Schock hatte er offenkundig schon lange wieder überwunden.


Einige hart gesottene New Yorker hatten sich nicht einmal vorübergehend erschreckt. Richard Saitte etwa, ein Arzt, der in einem Krankenhaus nur drei Strassenzüge von der 72ten Strasse entfernt arbeitet, fand die ganze Aufregung um den Vorfall übertrieben. „Dieses Riesenaufgebot an Polizei hier, die großräumige Sperrung, das ist doch alles eine unglaubliche Überreaktion“, sagte er, während er ungerührt von einem Buchladen zurück zu seiner Arbeitsstelle schlenderte. „Wir leben doch schließlich in New York, da passieren halt Sachen.“


Als in Manhattan die Sonne unterging, hatten sich auch Hal und Barbara Cohose wieder beruhigt. „Im Moment macht es uns am meisten Sorgen, dass es kalt und nass ist und wir hier nicht weg kommen“, sagte Hal Cohose, als es um sieben Uihr noch immer nicht aufgehört hatte zu regnen. „Und vor allem, dass ich morgen noch einmal her kommen muss, weil ich wegen dem Brand nicht zu Ende behandelt werden konnte“, moserte seine Frau Barbara. Der Alltag hatte in New York nur für eine Sekunde lang den Atem angehalten. Ganz anders, als vor fünf Jahren.

Sebastian Moll