Thursday, September 14, 2006

Die feinste Nase von New York. Chandler Burr ist der erste Parfumkritiker der Welt




“Was halten Sie denn davon?”, sagt Chandler Burr und streckt mir seinen Unterarm entgegen. Ich schließe die Augen und ziehe den Duft des Parfums ein, das der Mitvierziger mit dem sauberen Kurzhaarschnitt und dem frechen, wachen Blick auf seiner Haut verteilt hat. Mir fällt als einzige Assoziation Rasierseife ein aber das behalte ich lieber für mich. „Was denken Sie denn“ gebe ich feige zurück, um mir eine sichere Blamage zu ersparen.

„Ich denke, es ist sehr schwerfällig, sehr finster“, hebt Burr mit Bestimmtheit an und richtet sich dazu in seinem Straßencafestuhl auf, als wolle er eine Rede halten. „Es ist konservativ, beinahe schon reaktionär und das meine ich durchaus in einem politischen Sinn. Es gibt sich große Mühe, alle Klischees zu befriedigen, die man von einem männlichen Parfum im Kopf hat. “ Der Stab ist gebrochen über den Duft, Burr lehnt sich selbstzufrieden zurück und schlägt die Beine übereinander.

Der Hersteller des Dufts, dessen Namen Burr verschweigt, dürfte es fortan wohl schwer haben mit seinem neuen Wasser zu reüssieren – denn Chandler Burr ist in Sachen Duft der meinungsmachende Mann. Burr ist der einzige hauptberufliche Parfumkritiker der Welt und seine Kolumne in der Lifestyle-Beilage der New York Times bestimmt, was man in dieser Saison trägt. Und was eben nicht.

Das ist eine große Verantwortung in einer Branche, in der mit einem einzigen Produkt Hunderte von Millionen umgesetzt werden. Das weiß Chandler Burr und deshalb nimmt er seinen Job auch ausgesprochen ernst. Zwar, sagt er, seien seine Urteile letztlich subjektiv. Das sei nicht anders, als bei jedem anderen Kunstrkitiker, fügt er an und unterstreicht damit, dass er das Parfummachen für einen Akt hält, der eher mit Dichten oder Komponieren vergleichbar ist, als mit indutriellem Produktdesign. Doch er bemühe sich dennoch, objektive Qualitätsstandards aufrechtzuhalten. Ausserdem verstehe er es, so Burr, „wie jeder Kunstkritiker“, seine Geschmacksurteile zu reflektieren. „Subjektiv springe ich nicht auf Vetiver an“, nennt er ein Beispiel. Objektiv sei Guerlains Vetiver hingegen ein exquisit komponierter Duft

Zu seinen Urteilen gelangt Burr, indem er ein Parfum 24 Stunden lang trägt und stündlich aufzeichnet, wie sich der Duft entwickelt. Ein zentrales Kriterium ist dabei die Entfaltung: hält sich der Duft oder verflüchtigt er sich rasch, wie das bei vielen Parfums der Fall ist, die nur für die Probe an der Kaufhaustheke gemacht werden? Ein weiterer wichtiger Maßstab ist die sogenannte „Sillage“, der Nachlauf, also die Art, wie sich der Duft im Raum verbreitet.

Die Parfums auf der eigenen Haut zu tragen hält Burr entgegen verbreiteter Vorurteile für eine völlig ausreichende Testmethode, um sich ein Urteil bilden zu können. „Ich halte es für kompletten Unfug, dass Parfums an verschiedenen Menschen verschieden riechen. Ein gutes Parfum, verändert sich nicht, wenn es unterschiedliche Leute tragen.“ Ein guter Duft ist immer ein guter Duft und deshalb findet Burr auch nicht, dass es spezielle Parfums für Männer und für Frauen geben sollte: „Jeder sollte tragen können, was er will“, sagt der bekennende Homosexuelle, dessen erstes Buch vor 20 Jahren sich mit den genetischen Grundlagen der sexuellen Orientierung beschäftigt hat. „Dass es ‚männliche’ oder ‚weibliche’ Düfte geben soll, hat die Branche doch nur erfunden, damit heterosexuelle Männer die Hemmung davor ablegen, Parfum zu tragen.“

Eine derart nüchterne Betrachtungsweise ist charakteristisch für Chandler Burr. Burr ist nicht, wie man meinen könnte, in erster Linie ein Ästhet und ein Schwärmer. Viel stärker ausgeprägt als sein raffinierter Geschmack ist sein klarer Intellekt. Auf dem Papier ist er zwar ein klassischer New Yorker Dandy – hoch gebildet, smart, gesellschaftlich arriviert und bis in die Haarspitzen kultiviert. Doch er trägt andererseits seine Kultiviertheit genauso wenig vor sich her, wie seine Homosexualität. Eine Affektiertheit im Stil von Truman Capote wäre ihm fremd – für derartige Exaltiertheit ist er viel zu analytisch veranlagt. So erscheint er in Shorts und Sandalen zum Interview, der Treffpunkt ist ein beliebiges Schnellcafe mit Selbstbedienung in seiner Nachbarschaft Murray Hill – ihrerseits eine der unaufgeregtesten Wohngegenden von Manhattan. Kein teurer Anzug, kein Lunch in einem Nobelrestaurant in Midtown, wo man als Normalsterblicher keinen Tisch bekommt. Und es gibt keine übertriebene Gestik, keine thetralische Intonation der Sätze, stattdessen scharfe, präzise Antworten.

So entsprang Burrs Interesse an Parfum ursprünglich auch nicht aus exzentrischer Schwelgerei sondern auss naturwissenschaftlicher Neugier. Burr war poltischer Korrespondent für das Nachrichtenmagazin U.S.News in Paris, als das Phänomen des Geruchs ihn zu beschäftigen begann. „Selbst hatte ich bis dahin nie Parfum getragen und hatte mir auch nie über den Geruchssinn groß Gedanken gemacht“, sagt er. Bis er an einem kalten Januarmorgen 1998 auf einem Bahnsteig am Gare du Nord mit einem freundlichen Italiener ins Gespräch kam.

Der Mann war der Biophysiker Luca Turin und die beiden verstanden sich so gut, dass sie im Eurostar bis nach London das Abteil teilten. Am Ende der Reise wusste Burr, womit er sich im kommenden Jahr beschäftigen wollte. Er wollte ein Buch über Turin schreiben, der gerade dabei war, die Geruchs-Forschung zu revolutionieren. Bislang hatte man angenommen, dass die menschliche Nase auf verschiedene Molekülformen reagiert. Turin hingegen war dabei nachzuweisen, dass es Molekülvibrationen sind, die unsere Nasenschleimhäute wahrnehmen.

Burrs Buch „Der Kaiser des Geruchs“ war ein Erfolg in den USA – es wurde von der Kritik als hervorragendes Beispiel von spannendem Wissenschaftsjournalismus gefeiert. Eins führte zum anderen – Burr schrieb als nächstes eine ausführliche Reportage für das Intellektuellenmagazin „New Yorker“ über die großen französischen Parfumdesigner, die derzeit ebenfalls zu einem Buch wächst. Schließlich machte die New York Times ihn zu ihrem ersten und einzigen Parfumkritiker.

Dass die Times für Burr eine solche Stelle schuf, passt hervorragend in das derzeitige gesellschaftliche Klima von New York. Manhattan ist in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Exklusiv-Standort einer globalen Elite geworden. Arbeiter sind schon lange von der Insel verschwunden und auch der normale Mittelstand kann sich die Monatsmieten von rund 3000 Dollar für eine gewöhnliche Zweizimmerwohnung nicht mehr leisten. Was bleibt sind die hochgebildeten Gutverdiener, die in den besten und teuersten Restaurants und Boutiquen sowie bei den hochklassigsten Kultureinrichtungen ihren hochverfeinerten Neigungen nachgehen können.

Das durchschaut Chandler Burr freilich genau. „Natürlich ist Parfum überflüssig“, sagt er, „so, wie jede Kunst überflüssig ist. Aber es macht uns doch zu komplexeren, besseren Menschen.“ So ganz mag der harte, rationale Persönlichkeitsanteil von Burr jedoch trotzdem nicht in dieser Welt der eitlen Sinnesverfeinerung aufgehen. „Ich habe gerade einen Auftrag für einen Artikel über islamischen Fundamentalismus angenommen“, erzählt Burr nach einem Handytelefonat mit der Anzeigenabteilung der Times, die wissen möchte, ob das neue Lauder Parfum in seiner nächsten Rezension denn gut wegkommt. „Ich vermisse die politische Berichterstattung doch sehr“, seufzt er. Dann schaut Burr auf seine unaufdringlich elegante Uhr und verabscheidet sich eilig. Es ist Zeit, die Post bei dem koreanischen Gemüseladen im Erdgeschoß von Burrs Apartmenthaus abzuholen. Wieder ein Stapel Pakete, mit vielen aufwendig gestalteten Flacons, die es auszupacken und zu beschnuppern gilt, um New York dann mit eleganten Formuliereungen zu erklären, wie es in diesem Herbst zu riechen hat.