Tuesday, August 22, 2006

Anklage der Gleichgültigkeit - Spike Lees Katrina-Dokumentation

Die Kamera verharrt brutal und reglos auf dem Gesicht von Herbert Freeman Jr. während sich der schwarze Mann Satz für Satz die schmerzlichste Erinnerung seines Lebens herausquält. „Ich wollte bei ihr bleiben“, erzählt er mit flacher Stimme von dem Augenblick, als die Nationalgarde ihn mit Gewehr im Anschlag in einen Bus vor dem Kongresszentrum von New Orleans zwang, während seine gerade gestorbene Mutter in ihrem Rollstuhl zusammengesunken auf die Leichenwagen warten musste. „Ich sagte, lasst mich doch noch einmal zu ihr gehen.’ Doch der Soldat sagte, ‚Du gehst nirgends hin, Du steigst in diesen Bus.’“

Solche Passagen sind kaum zu ertragen. Doch sie reißen nicht ab in Spike Lees Dokumentarfilm über die Orkankatastrophe von New Orleans, der in dieser Woche in vier Teilen im US-Kabelfernsehen läuft: Die minutenlangen Sequenzen von in stinkendem Brachwasser schwimmenden, aufgeblähten Leichen etwa, unterlegt von der melancholischen Trompete des New Orleaner Bluesers Terence Blanchard; oder die nervlich völlig erschöpfte Cheryl Livaudais, die vor ihrem Wohnwagen inmitten eines endlosen Trümmerfeldes steht und unter Tränen in die Kamera schreit: „Ich hoffe dass die Politiker oder Ingenieure oder wer auch immer das hier angerichtet hat, nachts schlafen können.“

Spike Lees vier Stunden langes „Requiem“ für New Orleans, wie er den Film nennt, ist, wie das Lamento von Livaudais eine schreiende Anklage. Eine Anklage der Gleichgültigkeit aller Regierungsstellen- und Ebenen gegenüber dem Schicksal der Menschen von New Orleans. Eine Anklage des Rassismus, der darin zum Vorschein kam. Sowie eine Anklage der amerikanischen Gesellschaft, die jahrzehntelang vor dem Elend der armen schwarzen Bevölkerung in New Orleans die Augen verschlossen hat und das weiterhin tut. „Was mich am meisten bedrückt, ist, dass die Bilder vom Golf für viele Leute eine Überraschung waren“, sagt Spike Lee. „Die Regierung der USA hat es bis Katrina hervorrragend verstanden, die Armut in diesem Land zu verstecken.“

Dabei gibt Lee, der seit 15 Jahren erfolgreich Kino von Schwarzen für Schwarze zurück auf amerikanische Leindwände gebracht hat, vor, dass er sich als Autor in dieser Dokumentation weit gehend zurück genommen habe. Wie sein Vorbild Max Ophüls in Le Chagrin et la Pitie (Der Zorn und das Mitled) wollte er unverstellt die Menschen ihre Geschichten erzählen lassen. „Ich wollte das authoritative Zeugnis dieser Katastrophe und dieser Travestie schaffen“, sagt er. Die Menschen von New Orleans sollten ihre eigene Geschichte schreiben.

Tatsächlich ist der Autor nicht ein einziges mal zu sehen oder zu hören in den vier Stunden. Doch Lee versteht es als versierter Filmemacher dennoch, seinen Standpunkt deutlich zu machen. Vielleicht sogar noch wirkungsvoller, als mit direkter Polemik. So versäumt etwa Spike Lee gewöhnlich keine Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die USA sich mit ihrer Sklaverei-Vergangenheit noch nie wirklich auseinander gesetzt haben. Diese Kritik formuliert er seit fast 20 Jahren, man erwartet das von ihm. Wenn sich aber eines der Flutopfer von Katrina an die Sklaverei erinnert fühlt, dann gewinnt das an Überzeugungskraft. „Die Evakuierung, die meine Famile über die ganze USA verstreut hat, war wie eine vorzeitliche Erinnerung. Ich fühlte mich plötzlich wie auf dem Auktionsblock“, sagt die New Orleanerin Gina Montanna.

Wie mit dem Sklaverei-Argument, verfährt Spike Lee auch mit den krassierenden Theorien, denen zufolge die Dämme in den Armenvierteln von New Orleans gesprengt wurden, um den Druck auf die Dämme in den besseren Gegenden zu schützen. Zwei Bewohner des Slums Lower Ninth Ward erzählen Lee, sie hätten in der Nacht des Orkans Explosionen gehört. Spike Lee behauptet, er zeichne das nur auf. Eine Meinung habe er dazu nicht.

Doch so einfach kann Lee seinen Standpunkt nicht verbergen. Mit oder ohne Verschwörungstheorien klagt Lee die beschämende Gleichgültigkeit Amerikas gegenüber der – vorwiegend schwarzen und armen Menschen in Süd-Lousiana an. Er hofft damit, ein Jahr nach Katrina das Augenmerk wieder auf die Golfküste zu lenken, wo der Wiederaufbau quasi zum Stillstand gekommen ist. Allerdings muss er dabei im Moment gegen ein anderes Jubiläum ankämpfen – den 11. September. Und damit beschäftigen sich die Mächtigen in Amerika weit lieber, als mit dem Schandfleck New Orleans.

Sebastian Moll