"Jetzt schon veraltet" - Wie die New Yorker Oliver Stone finden
New York. Plötzlich sind die Erinnerungen wieder da. Als Dolly Daier aus dem Kino auf die hektische 42te Strasse in Midtown Manhattan tritt, hat sie wieder jedes Detail jenes Morgens vor fünf Jahren vor Augen, als zwei Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center rumsten. „Mein Hund hat mich an dem Morgen geweckt“, sagt die junge Frau mit der zerfledderten Jeans und der dunklen Sonnenbrille. „Er hat auf einmal angefangen zu bellen wie verrückt, weil er die Erschütterung gespürt hat, als der erste Turm fiel.“
Auch für George Allen hat Oliver Stones „World Trade Center“ die verwirrende und verwirrte Welt jenes Tages und der Zeit danach wieder gegenwärtig gemacht. Der schmale Mann mit der grün getönten Brille, war besonders davon berührt, wie Oliver Stone den brutalen Bruch in einem ganz normalen Tag in New York rekonstruiert hat, der so unerwartet in der Katastrophe endet: „Man hat damals den Boden unter den Füßen verloren. Alles war surreal“, erinnert sich Allen.
Genau das war freilich Oliver Stones Ehrgeiz bei dem gewagten Projekt, die erste große Hollywoodproduktion über den 11. September abzuliefern: Die Geschehnisse jenes verhängnisvollen Tages wiedererlebbar zu machen. Stone wollte, wie er behauptet, „apolitisch“ bleiben und folgte dazu der Konvention gängiger Katastrophenfilme. Das Desaster wird personalisiert – wir erleben den Tag durch die Augen der beiden Polizisten Will Jimeno und John Mc Loughlin, die einen quälend langen Tag und eine ebenso lange Nacht in den Trümmern des World Trade Center eingeschlossen sind, bevor sie gerettet werden.
Die New Yorker finden, dass es Stone trefflich gelungen ist, mittels solcher Personalisierung die Welt des Herbstes 2001 wieder auferstehen zu lassen. „Herr Stone hat eine öffentliche Tragödie genommen und sie in etwas ebenso aufwühlendes wie unglaublich unglaublich Trauriges verwandelt“, lobt die New York Times. „Die beinahe unheimlich wahrheitsgetreue Darstellung der emotionalen Realität jener Tage produziert beinahe so etwas wie Nostalgie. Nicht, dass man derartige Agonie je wieder erleben möchte – es geht vielmehr um die außergewöhnliche Nächstenliebe, die in jenen Tagen spürbar war.“
Es war gewiß jenes für New Yorker so ungewohnte mitbürgerliche Mitgefühl, das die Zeit rund um 9/11 erträglich gemacht hat. Das Wiedereleben jener schlimmen Tage dämpft Oliver Stone unterdessen vor allem durch sein Happy-End im Hollywoodstil. Und dieses Hoffnungsvolle an Stones Werk ist, wie der Kommentator des New Yorker Boulevardblattes Daily News, David Hinckley, findet, ein wichtiger Beitrag zur Heilung: „Wenn man die blutige Menschheitsgeschichte betrachtet, ist oft das nackte Überleben das Einzige, dass es zu feiern gibt“, schreibt Hinckley. „Vielleicht hilft uns „World Trade Center“ dabei, wieder einmal diesen winzigen Schritt zu tun, und uns über das Überleben zu freuen.“
Andere hätten es hingegen lieber weniger optimistisch gehabt. „Ich konnte mir beim Betrachten der bangenden Familien nicht helfen, ständig an die Zehntausende zu denken, die das Schlimmste befürchtet und dann auch das Schlimste erlebt haben“, schreibt David Edelstein im seriösen Stadtmagazin „New York“.
Stone hat das Thema wohl aus Respekt vor der Frische der seelischen Verwundungen mit Samthandschuhen angefasst. Dabei wollen viele New Yorker gar nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. „Ich habe einige Bekannte, die sich weigern, diesen Film zu sehen“, sagt George Allen nach seinem vormittäglichen Kinobesuch in der Nähe des Times Square. „Ich finde das kindisch. Ich will mich nicht verstecken, ich will mich damit auseinandersetzen.“
Vor allem wollen viele New Yorker nicht, wie Stone dies zumindest vorgeblich versucht hat, von der Diskussion um die politischen Implikationen des 11. September verschont bleiben. „Ist es wirklich für den kollektiven Heilungsprozess notwendig“, fragt David Edelstein im New York Magazine, „den 11. September als reine Geschichte von Einzelschicksalen zu erzählen? Oder ist das nicht vielmehr ein Leugnen der schweren und langfristigen Folgen dieses Tages? Ich weiß nur, dass dies ein merkwürdiger Zeitpunkt ist, um unpolitisch zu sein.“
So unpolitisch, wie der Film daher kommt, ist er allerdings auch gar nicht. Der Kritiker der linken Village Voice, John Hoberman, stößt sich jedenfalls daran, wie sehr der Film von christlichen Motiven durchdrungen ist, sowie von der moralischen Überhöhung der amerikanischen Familie. Gänzlich zu viel ist für Hoberman jedoch der Soldat, der am Ende durch die Ground Zero-Trümmer stapfend raunt, dass „es viele gute Männer brauchen wird, um das hier zu sühnen.“ „Ist es denn überhaupt nicht mehr möglich, die Welt nach dem 11. September anders zu verstehen, als mit den Begriffen von George W. Bush?“, schreibt Hoberman. Und: „Wer zieht denn unsere braven Jungs im Irak aus den Trümmern?“
Jenes Kriegsgetrommel am Ende stößt auch George Allen auf. „Das war völlig überflüssig.“ Aber es beängstigt ihn auch nicht sonderlich. Direkt über seinem Kopf läuft am Times Square die Meldung über das Reuters-Lichtband, dass der Senator Joe Lieberman als expliziter Irakkriegsbefürworter den Vorwahlkampf in Connecticut verloren hat. Allen deutet auf die Meldung und grinst: „Ich glaube Stones Film ist jetzt schon veraltet.“
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