Wednesday, August 02, 2006

Die letzte Freak Show von New York. Coney Island ist ein Reservat der Ausgegrenzten




Der „Boardwalk“, der schier endlose hölzerne Laufsteg entlang des Strands, ist schwarz vor Menschen. Junge Mädchen mit Hautfarben aller Schattierungen stolzieren auf und ab, schlecken Eiscreme und kichern untereinander, wenn sich die Jungs nach ihnen umdrehen. Bodybuilder mit großflächigen Tätowierungen stellen ihren Oberkörper zur Schau. Dicke russische Paare tragen Klappstühle und Kühlboxen an den Strand um sich irgendwo ein paar Quadratmeter Sand zu erkämpfen. Aus Boomboxen dröhnt wechselweise Salsa oder Hip Hop, gelegentlich übertönt von niedrigfliegenden Sportflugzeugen, die lange Werbebanner hinter sich herziehen. Es ist Sommer in Coney Island.

An Tagen wie diesem ist Captain Bob glücklich. Denn an Tagen wie diesen ist es auf der schmalen Halbinsel am äußersten Rand des Millionenmolochs New York ein wenig so, wie es früher einmal war. „Anfang der 50er Jahre, als ich ein kleiner Junge war“, sagt der Mann mit der sonnengegerbten Haut und der zerknautschten Seemannsmütze, „gab es Wochenenden, da waren fünf Millionen Menschen am Strand.“ Heute schätzt Bob, der hier direkt am Wasser wohnt und sein Geld mit historischen Führungen verdient, seien es bestimmt eine halbe Million. Die goldenen Zeiten sind lange vorbei. Aber Coney Island lebt.

An Tagen wie diesen ist Coney Island nämlich das, was es seit rund 140 Jahren ist – ein Paradies für die einfachen Leute von New York, die die Woche über in stickigen engen Wohnungen hausen und viel zu lange Stunden für viel zu wenig Geld arbeiten. Schon Ende des 19.Jahrhunderts kamen sie am Wochenende für damals fünf Cent mit der Bahn hier heraus um zu baden, vor allem aber um sich zu amüsieren. Gleich drei Vergnügungsparks gab es damals hier am Strand – es waren die Mütter aller Rummelplätze der Welt. Sie boten eine berauschende Vielfalt an bislang ungekannten Attraktionen: Da war die Loop-Loop, die erste Achterbahn der Welt; der Steeplechase - ein gigantischer Rennparcours für mechanische Pferde; da waren die beliebten Freak Shows mit bärtigen Frauen, schrumpfköpfigen Negern und doppelköpfigen Schafen; da gab es den Love Barrel – wo Männer Frauen so hin und her gerollt wurden, dass sie aufeinander fallen mussten; es gab Schwimmbäder, ein künstliches Venedig; und es gab im Dreamland die erste Skyline der Welt mit meinem Wald von exotischen, elektrisch erleuchteten Minaretten, Zinnen und Türmen.

Damals waren es vor allem die irischen, deutschen und osteuropäischen Einwanderer aus den Elendsquartieren auf der Lower East Side, die es hier heraus zog. Heute sind es Latinos, Asiaten, Schwarze und Araber aus Brooklyn und aus der Bronx, die am Wochenende auf Coney Island in der Sonne liegen, den Boardwalk hoch und runter flanieren, Hot Dogs essen und Bier trinken. Doch im Prinzip hat sich nichts geändert – wie damals verstopft das New Yorker Lumpenproletariat zu Hunderttausenden am Samstagmittag die U-Bahn-Linien F und Q an die Stillwell Avenue, wo die Gleise nur 100 Meter vom Strand entfernt abrupt enden.

Dabei ist das heutige Coney Island nur noch ein Schatten seines einstigen Selbst. Die drei großen Vergnügungsparks Luna Park, Dreamland und Steeplechase galten zu Beginn des 20 Jahrhunderts als Weltwunder. Sie bildeten eine gigantische Traumlandschaft, ein Proto-Las Vegas. Der Architektur-Theoretiker Rem Kohlhaas schreibt in seinem Buch ‚Delirious New York’, dass Coney Island so etwas wie ein Testlauf des modernen Manhattan war – hier wurden die modernsten Technologien ausprobiert um eine 100 Prozent neuartige, gänzlich künstliche Umgebung zu schaffen. So, wie in den folgenden Jahrzehnten im Großmaßstab auf der anderen New Yorker Insel.

Was heute von den Vergnüngsparks übrig ist, ist im Vergleich kümmerlich. Das einst meilenlange Amüsiergebiet am Strand entlang ist auf wenige hundert Meter zusammen geschrumpft. Den Attraktionen – der hölzernen alte Achterbahn „Cyclone“, dem Riesenrad, ein paar Kinderkarrussellen, einem Stand zum Büchsenwerfen und ein paar Pavillions mit Spielautomaten, sieht man an, dass sie aus einer anderen Zeit stammen. Sie sind heruntergekommen und veraltet und rufen mehr Nostalgie als sonst etwas hervor.

Das Ganze ist umzingelt von monströsen Plattenbauten, die, wenn man vom Meer aus Inland blickt, meilenweit wie ein Krebs nach links und rechts den Strand entlang kriechen. Der Städteplaner Robert Moses wollte in den 50er und 60er Jahren den Amüsierbetrieb auf Coney Island komplett einstellen und die Slums der Stadt abschaffen, in dem er ihre Bewohner hier heraus umsiedelt. Die Pläne gingen in jeder Hinsicht schief. Der Stadt ging auf halben Weg das Geld aus und sie hinterließ Coney Island als Gemisch eines verkrüppelten, einst glamourösen Amüsierbetriebs und endlosen, möderischen sowie drogeninfizierten Sozialbaughettos.

Für Leute wie Captain Bob übt das, was vom alten Coney Island übrig geblieben ist – das Strandleben der ungehobelten Massen, der melancholische Charme des Heruntergekommenen – jedoch noch immer eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Der Mann mit dem überaus herzlichen Lächeln, das aus hoffnungslos verfaulten Zähnen besteht, ist einer, der sonst nirgends so recht dazu passt in Amerika. Doch hier in Coney Island fühlt er sich wohl.

Bob ist vor zehn Jahren nach Coney Island gezogen. Er wohnt mitten auf dem Rummelplatz, ein paar Meter vom Boardwalk entfernt. Gegenüber von seiner Holz-Hütte steht ein Käfig, in dem Kinder für ein paar Cent einen Baseball schlagen können. Oben am Laufsteg reihen sich ein paar Buden auf, für die ein Coney Island-Künstler im Stil der Dreißiger Jahre von Hand die Werbeschilder gemalt hat. Hot Dogs und Eiskrem werden angeboten, ein Souvenirladen verkauft T-Shirts und Plüschtiere. Dazwischen steht Jack Ruby’s Bar – der Dorfbrunnen von Coney Island, wo die illustre Bevölkerung der Halbinsel schon morgens um Elf beim Bier zusammen sitzt, aufs Meer schaut und über die Zukunft von Coney Island debattiert.

Bevor Bob nach Coney Island zog, führte er er am damals noch zwielichtigen Hudson-Ufer in Manhattan zwischen wilden Uferpartys und Mafia-Schießereien ein Restaurant. Davor hat er als Führer um Dschungel von Belize gelebt. Irgendwann war er auch mal Fischer, ganz früher war er Dekorateur in einem New Yorker Kaufhaus. Was er dazwischen alles gemacht hat, weiß er gar nicht mehr so genau.

An der langen Theke von Jack Ruby’s, ganz vorne am Eingang, von wo aus man am Horizont die großen Container-Schiffe vorbei ziehen sieht, treffen wir Bob’s Freund Jim Knipfel. Jim sitzt eigentlich fast immer bei Ruby’s und trinkt. Der Journalist, Zeichner und Schriftsteller wohnt zwar nicht direkt in Coney Island, sondern ein paar Meilen tiefer in Brooklyn. Doch Knipfel, ein hagerer Mann mit langen strähnig-fettigen Haaren, rotunterlaufenen Augen und einem Joseph Beuys Hut, sagt von sich, dass Coney Island die einzige Heimat ist, die er je gehabt hat.

„Ich habe schon als Kind im Mittleren Westen mit Faszination die Geschichten über die Freak-Shows auf Coney Island gelesen“, sagt Knipfel mit versoffener, rauher Stimme. „Es gab früher richtige Freak-Scouts“, ergänzt Captain Bob. „Leute haben im ganzen Land die Irrenhäuser und die Krankenhäuser nach Abnormitäten abgeklappert und sie dann nach Coney Island gebracht. Sie wurden hier bestaunt und beschimpft, vor allem aber haben sie hier ein Leben und ein Auskommen gehabt.“

Die bärtige Lady Olga und die 300 Kilo schwere Jolly Irene oder die Bewohner von „Lilliputia“, dem Königreich der Zwerge im Dreamland Park, fühlten sich in Coney Island wohl, weil sie nicht ausgegrenzt oder weg gesperrt wurden. Sie genossen hier die Solidarität anderer Aussenseiter und hatten als Attraktionen einen Platz in der Gesellschaft. „Ich habe mich selbst auch immer als Freak empfunden“, sagt Knipfel, dessen schwere Psychosen ebenso ein ewiges Thema seiner Bücher sind, wie Coney Island. „Deshalb wollte ich von klein auf hier her.“

Coney Island war schon immer der Ort, an dem all das sein durfte, was anderswo versteckt und verboten war: die Massen durften, ja sollten ungehemmt ihre vulgärsten Gelüste befriedigen; am Strand wurden schamlos auch die groteskesten Körperformen zur Schau gestellt; man ergötzte sich tabulos an Dingen und Menschen, die gemeinhin als abstossend und abartig galten. Coney Island war der Ort, an dem sich das unterdrückte Unterbewusste von Amerika austoben konnte.

Früher, in den Siebziger Jahren noch, sagt Knipfel, gab es in ganz New York solche Orte, Orte für Menschen wie ihn und für Captain Bob. Den halbseidenen Times Square etwa, mit seinen Prostituierten und Porno-Kinos, dem benachbarten Proleten-Viertel Hell’s Kitchen und der Bohemien Szene, die sich dort einnistete. Heute würden die Räume für Freaks wie ihn jedoch immer enger. „Alles wird aufgeräumt und kommerzialisiert“, klagt Knipfel. Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Alleine in Coney Island findet er noch ein Reservat. „Hier gibt es noch genügend Freaks.“

Doch auch hier sind sie bedroht. So ist es an der Theke bei Jack Ruby, hinter der es auf einer riesigen Wand hunderte von Fotos des alten Coney Island zu betrachten gibt, das Dauerthema, ob es Ruby’s im kommenden Jahr überhaupt noch geben wird. „Sie wollen ganz Coney Island in ein verdammtes Disneyland verwandeln“, motzt ein älterer Mann namens Owen, der selbst eine Bar betreibt und nach der Nachtschicht zum Frühstücksbier vorbei schaut. Der Konfektionsmillardär Joe Sitt hat in den vergangenen Jahren den ganzen Strand rauf und runter Grundstücke aufgekauft. Jetzt, munkelt man, will er alles, was dort steht, einreissen und ein Mega-Hotelcasino im Vegas-Stil hinstellen.

Ein paar Meter von dem offenen Eingang von Ruby’s sitzen auf einer Bank ein paar puertoricanische Jugendliche und kauen an ihren Hot Dogs. Aus ihrem Recorder dröhnt Salsa und ein hübsches Mädchen im Bikini fängt aus Übermut an, direkt vor der Nase der Jungs aufreizend zum Takt ihre Hüften zu schwingen. Aus einem Lautsprecher weht von nebenan die Stimme eines Anheizers mit der Meeresbrise herüber. „Shoot the Freak“ wirbt er dafür, mit Farbbeutelgewehren auf ein lebendiges menschliches Ziel zu schiessen. Jim Knipfel und Captain Bob bestellen sich noch ein Bier.