Wednesday, October 04, 2006

"Ich bin eine Katastrophe" - Ex Boxweltmeister Mike Tyson boxt für Touristen in Las Vegas

Nachdem er sein Publikum beinahe eine Stunde lang hat warten lassen, steigt Mike Tyson träge und schwerfällig in den Boxring, der irgendwo tief im halbdunklen Inneren des Vegas-Kasinos Aladdin aufgebaut worden ist. Er lässt seine Fäuste faul in die roten Handschuhe sinken, die sein Trainer Jeff Fenech ihm hinhält, schlurft ein wenig an den Seilen entlang auf und ab und fängt dann erst langsam an, rhythmisch zu tänzeln sowie seine noch immer furchterregenden Arme in die Kampfposition zu heben. Das Publikm, das sich drei Reihen tief um den Ring drängt, jubelt.

Doch nach einer guten Viertelstunde ist alles wieder vorbei. Vier, fünf Schlagkombinationen, die Jeff Fenech mit Sparringshandschuhen abfängt, zeigt Tyson der Touristenhorde, dazwischen lässt er sich theatralisch von gleich drei Komparsen, die den Betreuer geben, den Kopf mit Wasser übergießen und sich den Nacken massieren. Danach hat der einst gefürchtetste KO-Schläger der Welt genug. „Ich hasse Training“, gibt er unumwunden zu, als er im Anschluß Fragen aus dem Publikum beantwortet. „Ich habe meine Karriere beendet. Ich bin nur hier, weil ich Geld dafür kriege.“

Mike Tyson macht keinen Hehl daraus, dass das, was er derzeit in Las Vegas abliefert, eine Farce ist. Auf dem Strip – der Hotel- und Kasinomeile, die Vegas definiert – wird mit überdimensionalen Plakaten ein mehrwöchiges „Mike Tyson – Trainingscamp“ angepriesen. Jeden Tag, so werben die Tafeln, übt der böse Mann des Boxsports zwei Stunden lang im Aladdin. Eintritt frei. Wofür er übt weiß allerdings niemand zu sagen. Von einer Serie von Schaukämpfen wird zwar gemunkelt, bestätigen wollen jedoch weder Tyson, noch sein Management, noch das Aladdin das Gerücht. Fest steht, dass er sich nach seinem letzten Titelkampf im vergangenen Jahr endgültig aus dem ernsthaften Profigeschäft verabschiedet hat. „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr“, sagte er, seelisch und körperlich ausgebrannt, nachdem er in den siebten Runde gegen Kevin McBride das Handtuch geworfen hatte.

„Ich möchte nicht mehr dieser Typ sein“, begründete er damals, dass er endgültig vom Boxen die Nase voll habe. Tyson war der Rolle des gemeingefährlichen, unkontrollierbaren Totschlägers überdrüssig, die ihm anhängt, seit er sich 1986 mit erst 20 Jahren seinen ersten Weltmeistertitel im Schwergewicht holte. Doch er wird die Rolle nicht los, auch wenn er nicht mehr um den Titel boxt. Andere Vegas-Hotels locken die Laufkundschaft mit wilden Tigern, so wie das MGM oder mit Haien in Riesenaquarien, wie das Mandalay Bay. Das Aladdin hat den wilden Tyson. Die Vegas-Touristen, die in pinkfarbenen Hosen und Tennisschuhen den Strip auf und ab flanieren zwischen Shopping, einem Bingo-Spiel und Celine Dion ein wenig erschaudern zu lassen, ist offenbar derzeit für ihn die einzige Art und Weise, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Mike Tyson hat im Lauf seiner Karriere 400 Millionen Dollar verdient. Doch er hat das einmalige Kunststück fertig gebracht, eine solche Summe komplett zu verprassen. Die Party zu seinem dreißigsten Geburtstag kostete eine Million, er gab im Monat 8000 Dollar für die Pflege seiner Tiger aus und 65,000 Dollar für Chauffeure. Seinen häufig wechselnden Begleiterinnen Schmuck für mehrere Hunderttausend zu kaufen, war für Tyson keine Seltenheit. Vor drei Jahren musste er dann persönlichen Bankrott anmelden. 23 Millionen schuldet er den englischen und amerikanischen Steuerbehörden, seiner Ex-Frau, seinen Anwälten, Managern, Trainern, Geschäftspartnern. Und er muss den Unterhalt für sechs Kinder von verschiedenen Müttern aubringen.

Fünfzehn Jahre lang füllte Tyson die großen Boxhallen der Welt, in dem er willig diese Rolle spielte. Die Menschen kamen nicht wie zu Muhammed Ali, weil er ein so überragender Boxer war. Sie wollten Tyson sehen, weil er so gewalttätig und unberrechenbar war wie niemand sonst. Man wusste nicht, ob er seine Gegner nur niederstreckt, ob er versucht, ihnen die Knochen zu brechen oder ob er ihnen sogar ein Stück Fleisch aus dem Ohr beißt, wie 1997 aus dem von Evander Holyfield. Bis zu 30 Millionen pro Abend bekam er dafür. Im Aladdin wird er wohl nur einen Bruchteil dieser Summe verdienen. Aber er zieht noch immer die Leute von der Strasse, er ist noch immer mehr als nur ein abgehalfteter Boxer. Er ist ein Freak, eine Attraktion, so wie früher die bärtigen Damen und die siamesischen Zwillinge auf den Jahrmärkten. Man kommt, um den Unbändigen zu sehen, den Vergwaltiger, den ehemaligen Zuchthäusler, das wilde Tier, den zornigen mißhandelten Jungen aus den Slums von Brooklyn.

Erstaunlicherweise durchschaut Mike Tyson seine deprimierende Lage, die traurige Geschichte, die er aus seinem Leben gemacht hat genau. In der Frage und Antwort-Session, die länger dauert, als davor das sogenannte Training, fragt ihn ein Fan, ob er etwas für die Flutopfer in New Orleans tun wolle. „Ich muss erst einmal mir selbst helfen“, sagt er, alleine mit einem Handtuch auf dem Kopf und einem Mikrofon in der Hand im Ring stehend. „Ich bin auch eine Katastrophe. Nennt mich Katrina-Mike.“

Dann klettert er vom Ring auf den Teppichboden des Kasinos und setzt sich am Ringrand auf einen Hocker. Eine ganze Einheit von Ordnern in dunklen Anügen reihen die Zuschauer zu einer Schlange auf, die sich an den unaufhörlich klingelnden einarmgen Banditen vorbei bis zum Eingang der Expresshochzeits-Kapelle in einem Hinterzimmer windet. Einer nach dem anderen darf sich jetzt mit „Iron-Mike“ fotografieren lassen. Und alle wollen ihn dabei anfassen, ihn umarmen oder ihm die Hand schütteln. Es ist ein bißchen wie in einem Streichelzoo mit Raubtieren. Ich habe Tyson berührt und er hat mir gar nicht weh getan, wird man dann zuhause in Idaho oder Minnesota oder Kyoto zu den Bildern sagen können. Oder es sich zumindest denken. Tyson lässt das geduldig und freundlich über sich ergehen, auch wenn sein Blick nicht verbergen kann, wie sehr ihn das alles quält. „Die Leute glauben, dass ich ein wildes Tier bin. Egal, was ich tue, ich kann das nicht ändern“, sagte er jüngst erst der Zeitung USA Today. Tyson hat sich resigniert in sein Schicksal gefügt und spielt das faule Spiel mehr oder weniger willig mit.

Eine junge Frau in Jogginghosen, die gebannt das bißchen Training verfolgt hat, das Tyson vorher gezeigt hatte, hält sich derweil zurück. Sie will kein Photo, sie bleibt auf ihrem Stuhl sitzen und lässt das Gesehene in ihrem Kopf nachwirken. „Diese Kraft, diese Schnelligkeit“, schwärmt die Französin, die sich als Sylvie vorstellt und als Boxerin zu erkennen gibt, „selbst jetzt noch. Von den vielen vielen Tausend Boxern hat nicht einmal ein Prozent das Talent für so etwas“, schwärmt sie. Für Sylvie ist Tyson vor allem noch immer einer der begnadetsten Athleten aller Zeiten. „Man muss doch seine Leistung im Ring und das was er sonst getan hat auseinander halten“, sagt sie. Tyson, den die Fotografen noch immer umzingeln und gar nicht mehr weglassen wollen, kann das leider nicht hören. Dabei täte es ihm bestimmt gut.

Sebastian Moll