Friday, January 05, 2007

Verstümmelung oder Lebenshilfe - der Fall des Mädchens Ashley

Die kleine Ashley liegt den ganzen Tag auf ihrem Bett und starrt an die Decke. Den Kopf heben oder ein Spielzeug halten kann die Neunjährige nicht. Manchmal scheint sie konzentriert auf den Fernseher zu starren, sagt ihr Vater oder auf Musik zu reagieren. Genau weiß er es nicht. Ashley hat von Geburt an eine Krankheit namens „statische Encephalopathy“ – ein irreparabler Gehirndefekt. An ihrem Zustand wird sich lebenslang nichts ändern.

Deshalb entschlossen sich ihre Eltern vor zwei Jahren zu einem ungewöhnlichen Schritt. Sie ließen der damals Siebenjährigen den Uterus und die Brustansätze entfernen und unterzogen Ashley einer massiven Östrogenkur. Ashley sollte nicht mehr wachsen, damit ihre Eltern sie besser pflegen können. „Wir sind am Rande unserer Kapazität, sie mit ihren 32 Kilogramm zu heben, ihre Großmütter sind bereits überfordert. Wir wollen sicher stellen, dass wir sie weiterhin auf Ausflüge mitnehmen können, sie ins Wohnzimmer setzen und sie baden können“, so die Eltern von Ashley in einer ausführlichen Erklärung auf ihrer website www.ashleytreatment.com.

Der Fall war im Dezember nach einem Artikel in einer medizinischen Fachzeitschrift an die Öffentlichkeit gelangt – die Eltern reagierten mit ihrer ausführlichen Stellungnahme im Internet auf die entstehende Debatte über die moralische Richtigkeit ihrer Entscheidung. „Es ging bei der Behandlung von Ashley nie um die Bequemlichkeit ihrer Pfleger“, verteidigen sie sich dort, „sondern um die Lebensqualität des Mädchens. Das schlimmste an ihrem Zustand ist die Langeweile und die Behandlung verbessert ihre Situation um ein Vielfaches.“ Darüberhinaus argumentierte die Mutter, dass Menstruationskrämpfe und große Brüste das ohnehin beträchtliche Unwohlsein ihrer Tochter noch deutlich erhöhen würden.

Das Krankenhaus, das die Operation an Ashley vorgenommen hatte – das Seattle Children’s Hospital - war ebenfalls zu dem Schluß gekommen, dass es bei der Behandlung um die Lebensqualität des Mädchens und nicht um die der Eltern ging. Die Ethik-Kommission der Einrichtung hatte lediglich rechtliche Bedenken wegen der Sterlisierung einer Behinderten. Da sich Ashley jedoch ohnehin niemals wird freiwillig fortpflanzen können, wurden diese Vorbehalte schnell ausgeräumt. „Kleiner zu bleiben hat große Vorteile für das Kind“, sagt Dr. Benjamin Wilfond von der Seattler Klinik. „Die Absichten der Eltern zielten eindeutig darauf ab, dem Kind zu helfen.“

Für viele ist der Fall jedoch überhaupt nicht eindeutig. Sowohl auf der website der Eltern als auch auf der website des Nachrichtensenders MSNBC entstand in den vergangenen Tagen eine heftige Debatte über den Fall Ashley. Dort sind zwar auch – wie schon vor zwei Jahren im Fall Terry Schiavo – die vorhersehbaren Empörungsrufe nachzulesen, die die Operation als „Eingriff in die Natur“ denunzieren und von „Eugenik“ reden. Die meisten Einträge zeigen jedoch bei allem Unwohlsein ein hohes Maß an Verständnis für die Eltern. „Es ist sehr einfach eine solche Entscheidung zu kritisieren“, schreibt etwa der User fab2. „Ich bewundere die mutige Entscheidung der Eltern. Sie haben es sich nicht leicht gemacht und ich bin sicher, dass sie den besten Weg gewählt haben.“ Al Dad schreibt: „Eine Fußnote an die Steinwerfer: Zahnspangen, die Entfernung potenziell karzinogener Hautstellen, die kosmetische Korrektur von Hasenscharten – all das sind auch Eingriffe in die Natur. Würden Sie Ihr Kind um Zustimmung zu solchen Prozeduren bitten? Lasst die Steine liegen!“

Auch die Fachleute zeigen aller Bedenken zum Trotz Verständnis für die Eltern: „Ursprünglich war ich ausser mir“, schreibt etwa Dr. Tom Shakespeare, der sich als Bioethiker zu erkennen gibt. „Aber je länger ich darüber nachdenke, desto besser kann ich die Eltern verstehen.“ Ähnlich sieht es Shakespeare’s Kollege Jeffrey Brosco aus Miami. „Die meisten Leute werden spontan sagen, dass das, was die Eltern getan haben, falsch ist. Aber man muss verstehen, dass sie vor einem schweren Dilemma standen. Wenn wir als Gesellschaft solche Dilemmata verhindern wollen, müssen wir mehr Geld für die Heimpflege von Behinderten zur Verfügung stellen.“Das sieht auch Dr. Joel Frader, Bioethiker an der Universität von Chicago so. „Diese spezielle Behandlung, auch wenn sie in dieser Situation angemessen sein mag, ist keine Lösung für das große Problem der Pflege von Behinderten in unserer Gesellschaft. Die Unterstützung, die wir als Gesellschaft Pflegern anbieten, ist miserabel.“

Der Fall Ashley scheint in den USA auf ein anderes politisches Klima zu stoßen, als der Fall von Terry Schiavo vor zwei Jahren. Die grundsätzlichen ethisch-religiösen Fragen des Eingriffs in die Natur und das Leben treten hinter das Nachdenken über die sozialen Implikationen zurück. Erst in der vergangenen Woche hatte die New York Times mit einem großen Artikel darüber das Land aufgerüttelt, dass viele Familien vor dem Bankrott stehen, weil sie sich die Pflege ihrer Angehörigen nicht leisten können. „15 Millionen Amerikaner pflegen ihre Angehörigen“, stand dort zu lesen. „Die meisten verdienen zu viel um sich für staatliche Unterstützung zu qualifizieren aber zu wenig, um für die Pfelgekosten aufkommen zu können.“ Vor diesem Hintergrund ist das Potenzial für Mitgefühl mit Ashleys Eltern in der amerikanischen Bevölkerung größer, als das Potenzial für moralische Entrüstung. Die Zeit, in der religiöser Fundamentalismus die öffentliche Debatte beherrschen konnte, scheint vorbei zu sein.

Sebastian Moll