Tuesday, July 11, 2006

Herr der Schmerzen: Floyd Landis will mit ruinierter Hüfte die Tour gewinnen

Bordeaux. Im Fahrerfeld des Profiradsports erzählt man sich viele Geschichten über Floyd Landis. Zum Beispiel wie er mit ausgebautem Vorderrad nur auf dem Hinterrad einen Berg herunter gefahren ist. Oder, wie er auf einem Flug von Kalifornien an die Ostküste mit dem Verzehr von 28 Tüten Erdnüssen einen neuen Rekord aufgestellt hat. Oder, wie er mit seinem Kumpel, dem CSC Fahrer David Zabriskie an einem Nachmittag 30 Capucchinos getrunken hat. Oder, wie er 2003 neun Wochen nach einer schweren Operation die Tour de France gefahren ist.

Die Geschichten über den Mann aus Pennsylvania, der nach seiner überragenden Vortsellung beim Zeitfahren von Rennes und vor den Pyrenäenetappen als großer Tour-Favorit gilt, ähneln sich. Es sind alles Geschichten über jemanden, der es nicht lassen kann, seine Grenzen auszuprobieren. Oder besser, der sich über das, was konventionell als Grenze gilt, lustig macht.

In diesen Tagen stösst Landis wieder einmal in Terrain vor, in das sich gemeinhin nicht einmal andere Radprofis vorwagen würden. Geschweige denn Durchschnittsbürger mit normalem Schmerzempfinden und limitierter Toleranz für Leiden. Am Ruhetag in Bordeaux gab Landis bekannt, dass sein Arzt ihm schon seit Monaten den Einsatz einer künstlichen Hüfte empfiehlt. Landis kann keine Treppe mehr schmerzfrei gehen, er kann nicht einmal mehr ohne Hilfe auf sein Rad steigen. Aber bevor er sich die Prothese einsetzen lässt, möchte er erst noch die Tour de Frane gewinnen. Denn wer weiss, wie gut er nach der Operation noch Rad fahren kann.


Seine Mannschaftsärztin Denise Demir kann nicht glauben, dass Landis überhaupt Rad fährt. Eigentlich, so Demir, kann er nicht einmal mehr gehen. Landis hingegen sagt: „Rennen fahren ist für mich die beste Therapie.“ Mittel gegen die Schmerzen, die Demir beschreibt wie permanente starke Zahnschmerzen verweigert Landis. „Schmerzen sind gut für mich, Schmerzen machen mich härter.“

Sicherlich hat jeder Radprofi ein intimes Verhältnis zu Schmerzen. Das gehört zu diesem Beruf. Doch Floyd Landis hat den Schmerz beinahe zu etwas wie einer Religion erhoben. Seine Trainingsphilosophie formuliert er etwa so. „Derjenige, der am härtesten trainiert, gewinnt. Und man kann immer noch härter trainieren. Immer. Weil man davon nicht stirbt, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Übertraining gibt es nicht. Übertraining heisst nur, dass man zu wenig trainert hat, um die Belastung auszuhalten.“

Bei vielen Radprofis findet man in der Biografie einen Grund dafür, warum sie dazu in der Lage sind, die Pein auszuhalten, die ihr Beruf mit sich bringt. Eine schwere Krankheit, wie bei Armstrong, eine schwere Kindheit oder ein überstandener Schicksalsschlag. Doch selbst in der Gesellschaft der Schmerzerprobten ist Landis ein Sonderfall.

Landis wuchs in Farmersville in Pennsylvania auf, einer kleinen mennonitischen Gemeinde. Die Mennoniten von Pennsylvania stehen den Amish nahe – einer Sekte, die das moderne Leben und dessen Annehmlichkeiten strikt ablehnt. Es gab keine Autos, kein Fernsehen, keine Filme und die Frauen durften nicht ohne Kopftücher herumlaufen. Als der kleine Floyd anfing Radzufahren, gestattete ihm sein Vater dies zunächst, solange er dabei züchtig Baumwollhosen trug.

Als Floyd jedoch mit 15 bekannt gab, dass er daraus einen Beruf machen möchte, sagte ihm sein Vater, dass ihn ob solch eitler Umtriebe Gottes Zorn ereilen würde. Um Floyd von der lästerlichen Aktivität abzubringen, beschäftigte er ihn mit endlosen Aufgaben – das Haus, streichen, die Jauchegrube sauber schaufeln, dies und das reparieren.

Der Vater hoffte, dass Floyd nach all dem zu müde sein würde, um noch Fahrrad zu fahren. Doch Floyd gab nicht nach. Er setze sich eben aufs Rad, wenn spät am Abend alles getan war und andere nur noch erschöpft ins Bett gefallen wären. Manchmal trainierte er im Dunkeln auf den Landstrassen Pennsylvanias bis vier Uhr in der Frühe.

Mit 17 zog Landis nach Kalifornien und wurde Mountainbikeprofi. 2001 fiel er Lance Armstrong auf und wurde für dessen Tour de France Kader verpflichtet. Bei der Tour 2004 war Landis als Helfer Armstrongs so auffallend stark, dass ihn die Radsportwelt geradezu dazu drängte, Armstrong zu verlassen und anzufangen, auf eigene Rechnung zu fahren.

In diesem Frühjahr, nach anderthalb Jahren bei der Schweizer Phonak Mannschaft, schien es, als habe sich Landis nun an seine Kapitänsrolle gewöhnt und sei reif für den großen Wurf. Er gewann im Frühjahr gleich drei große Mehrtagesrennen – die Kalifornien-Rundfahrt, die Tour of Georgia und Paris-Nizza. Seitdem gilt er als klarer Tour-Favorit – selbst, wenn Jan Ullrich und Ivan Basso mitgefahren währen.

Damals wusste allerdings noch niemand von Landis’ Hüfterkrankung. Er hatte die Diagnose seit einem knappen Jahr für sich behalten. Sie hinaus zu posaunen hätte für ihn zu sehr nach einer Ausrede für möglichen Mißerfolg ausgesehen. Und Ausreden mag Floyd Landis nicht. „Es ist doch völlig egal, ob Dein Kopf abgefallen ist oder Deine Beine explodiert sind“, sagt er. „Wenn Du nicht gewonnen hast, hast Du nicht gewonnen. Punkt. Eine Ausrede ist so gut wie jede andere.“ Insofern ist auch ein ruiniertes Hüftgelenk für Landis kein Grund, die Tour nicht zu gewinnen.

Sebastian Moll