Sunday, July 09, 2006

T-Mobile fährt wie von Ullrich befreit

Die Fahrer des T-Mobile Teams saßen gemeinsam im Reisebus und fuhren durch malerische Fachwerkdörfer im Elsass, als sie die böse Nachricht ereilte: Ihre Mannschaftskamerden Jan Ullrich und Oscar Sevilla würden nicht wie geplant mit ihnen auf Radreise duch Frankreich gehen. Die Mitteilung löste zunächst Ratlosigkeit und Verwirrung aus und so taten die Männer, in der Auberge au Boeuf in Blaiseheim angekommen, erst einmal das, was ein Radfahrer eben tut, um den Kopf frei zu bekommen: Radfahren.

Von Sonne und Bewegung erfrischt, beschlossen sie drei Stunden später, sich von dem Dopingfall nicht unterkriegen zu lassen. Sie werden nicht streiken sondern die Tour fahren, verkündeten sie der Mannschaftsleitung. Und wenn sie schon mitfahren, dann wollten sie auch das Rennen gewinnen.

Dagegen hatte die Mannschaftsleitung freilich nichts einzuwenden. So ganz ernst konnte man in den ersten nervösen Tagen der Tour jedoch solche Ankündigungen nicht nehmen. Nach einer Tour-Woche dominiert T-Mobile die Tour de France jedoch in einer Art, wie seit neun Jahren nicht mehr. Nach einem überlegenen Zeitfahr-Sieg am Samstag – dem zweiten Etappensieg des Teams nach Matthias Kesslers Triumph in Valkenburg - trägt der T-Mobile Ukrainer Sergej Gonschar das Gelbe Trikot. Der Australier Michael Rogers, wie Gonschar ein Zeitfahrspezialist, ist Gesamtdritter. Einen Platz dahinter liegt Patrick Sinkewitz; auf Platz sechs rangiert Andreas Klöden, mit knapp zwei Minuten Rückstand vor den Bergschlachten der kommenden Woche noch immer in realistischer Reichweite der Gesamtführung. Insgesamt liegen sechs T-Mobile Fahrer unter den besten 15. „Ich kann mich nicht erinnern, dass Armstrongs Mannschaft jemals so gut lag“, erklärte am Abend nach dem Zeitfahren in der Bretagne Mannschafts-Leiter Olaf Ludwig selbsbewusst.

Es ist ganz offenkundig ein gewaltiger Ruck durch die Mannschaft gegangen. Andreas Klöden und Matthias Kessler, beide enge Freunde von Jan Ullrich, erklären das mit Loyalität zu ihrem Kumpel Trainingsgefährten. Bevor Ullrich abgereist ist, sei er noch einmal durch die Zimmer gegangen, habe allen die Hände geschüttelt und ihnen Mut gemacht und ihnen gesagt, sie sollen für ihn mitfahren. Und wann immer sie gefragt werden, beteuern sie, dass sie genau dies tun. Matthias Kessler widmete gar seinen Etappensieg Ullrich.

Den Sponsor, der Ullrich ja entfernt hat, hört das freilich nicht besonders gern. Aber er hat Verständnis. „Matze und Andreas sind extra in die Schweiz gezogen, um näher bei Ullrich zu leben und mit ihm zu trainieren. Die drei sind eine verschworene Gemeinschaft“, so Team-Sprecher Christian Frommert. „Da kann man verstehen, dass sie Ullrich nicht von einem Tag auf den anderen fallen lassen können.“ Das, so Frommert, könne man nicht verlangen und als Mensch würde auch T-Mobile Ullrich nicht verdammen, weil er einen Fehler begangen hat.


Über das persönliche hinaus, haben sich die T-Mobile Profis allerdings verblüffend rasch von Jan Ullrich emanzipiert. So, wie die Mannschaft in der vergangenen Woche bei der Tour aufgetreten ist, könnte man meinen, sie habe nur darauf gewartet, einmal nicht für Ullrich fahren zu müssen. Zehn Jahre lang wurde alles bei T-Mobile dem Projekt Tour-Sieg für Ullrich untergeordnet. Jeder, der bei dem Bonner Rennstall unterschrieb, musste sich diesem alles überschattenden Ziel unterordnen. Im vergangenen Jahr ließ man sogar Erik Zabel gehen, weil er über viele Jahre stur seine eigenen Ziele weiter verfolgt hatte. Dafür war bei T-Mobile kein Platz mehr.

Jetzt hingegen kann die sogenannte zweite Reihe, die mehr oder weniger edlen Helfer, zeigen was sie kann. Und dabei stellt sich heraus, dass sie Jan Ulrlich gar nicht brauchen um erfolgreich zu sein. Es wäre der Gipfel der Ironie, wenn T-Mobile in diesem Jahr die Tour gewinnen würde. Möglich ist es jedoch, im Augenblick, ja sogar wahrscheinlich.

Den ausländischen Fahrern wie Sergej Gonschar, die noch nicht lange zum Team gehören, fiel die Umstellung zum eigenständigen Fahren ohnehin nicht schwer. Unbelastet von der Loyalität zum deutschen Star und dem nationalen Hype um denselben holten sie innerhalb von Stunden den Plan B aus der Trikot-Tasche. Wie Profis das eben tun. Für Michael Rogers, den Zeitfahrweltmeister aus Canberra, war es etwa überhaupt keine Frage, dass er nun „versuchen werde, das Gelbe Trikot zu holen und so lange wie möglich zu behalten.“ Er ist vor den Bergen nur eine Minute und acht Sekunden davon entfernt.

Andreas Klöden, der aus Treue zu Ullrich schon seit Jahren lukrative Angebote anderer Mannschaften ausschlägt, tat sich anfangs jedoch ein wenig schwerer damit. Doch nach dem Zeitfahren am Samstag rutschte ihm zwischen all den „Wir fahren für Jan“ Parolen ein verräterischer Satz heraus. „Ich rechne mir gute Chancen aus, diese Tour zu gewinnen. Ich habe mir auch schon vor Jans Ausschluss gute Chancen ausgerechnet.“ Das klingt ein wenig so, als ob es bei T-Mobile ohnehin schon eine gewisse Übersättigung mit den alten festgefahrenen Hierarchien gegeben hat. Und dass der nun erwzungene Wandel überfällig war.

Sebastian Moll