Tuesday, September 04, 2007

Der letzte Sommer auf Coney Island geht zu Ende




Viel ist es nicht mehr, was hier noch an die große Zeit von Coney Island vor 50 Jahren erinnert, als zwischen Juli und September jedes Wochenende fünf Millionen Menschen den legendären Strand am äußersten Zipfel New Yorks bevölkerten. Der damals vor Lebendigkeit überschäumende Amüsierstreifen am „Boardwalk“ - der hölzernen Strandpromenade, die sich über bald 10 Kilometer die ganze Halbinsel entlang zieht -ist auf gerade einmal 400 Meter zusammengeschrumpft. Im Westen, an der 17ten Strasse, beginnt er mit der vernagelten Ruine des ehemals vornehmen Child’s Restaurant, an deren löchriger Fassade früher prachtvolle Terra Cotta-Ornamente vergessen vor sich hin bröseln. Dann folgt eine Reihe von einem knappen Dutzend baufälliger Backsteinbuden, deren rührend dilettantische, von Hand gemalte Schilder Bier, Eis und Fritten anpreisen. Dahinter das alte Riesenrad und die beängstigend knarzende, 80 Jahre alte Achterbahn; dazwischen viel Brachland mit Graffiti- und Efeu - übersäten Mauerresten.

Im nächsten Jahr wird es wohl auch mit diesen Überresten des alten Coney Island zu Ende sein. Der 3. September war der offizielle Schluß der diesjährigen Badesaison und niemand hier in Coney Island weiß im Moment, wie und ob es im kommenden Jahr weiter geht. Fest steht nur, daß Joe Sitt, ein Damenkonfektions-Milliardär und Immobilienmogul sämtliche Grundstücke am Boardwalk aufgekauft hat und für seine Milliardeninvestition eine satte Rendite erwartet. Sicher ist auch, dass eine solche Rendite mit der Pacht etwa der spelunkigen Ruby’s Bar oder der kümmerlichen Spielautomaten-Arkaden dahinter wohl kaum zu realisieren sein wird. Von Hotelburgen, Luxus-Wohnungen und einem 24 –Stunden, 12-Monate-Entertainment Komplex im Vegas-Stil wird deshalb gemunkelt.

Die anstehende Generalsanierung von Coney Island ist seit über 40 Jahren fällig. Schon 1966 brannte der letzte der großen Amüsierparks von Coney Island, der „Steeplechase“, ab. Sein Nachfahre, das Astroland, mit seinen traurigen Büchsenwurf-Ständen und veralteten Karussells, ist nicht einmal mehr ein Schatten seiner Vorgänger, die um 1900 als Weltsensationen galten. Der Architekt und Städtebautheoretiker Rem Kohlhaas beschrieb in seinem Buch „Delirious New York“ das Coney Island von damals als Testgelände für das Manhattan des 20. Jahrhunderts. In den drei Ur-Themenparks „Steeplechase“, „Luna Park“ und „Dreamland“, wurden die „Strategien und Mechanismen“, sowie die „Themen und Mythologien“ ausprobiert, so Kohlhaas, die wenig später Manhattan zum Inbergriff der Metropole der Neuzeit machen würden.

Die Parks waren mit den allerneuesten Miteln der Technik erbaute extravagante Fantasielandschaften. Der Luna Park mit seinen exotischen Türmen und Zinnen war die erste Skyline der Welt, daneben konnte man durch ein künstliches Venedig wandeln. Ein Miniatur-Nürnberg wurde mit kostümierten Lilliputanern bevölkert, um die Illusion einer lebendigen mittelalterlichen Stadt zu vervollständigen. Im Steeplechase ritt man auf mechanischen Pferden bald eine Meile lang rund um den Strand . Und alles war mit der noch lange nicht selbstverständlichen Elektrizität 24 Stunden lang taghell erleuchtet.

In den 20 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen es Amerika so gut ging wie nie, wurde dieses zunächst noch elitäre Vergnügen demokratisiert. Die U-Bahn führte jetzt zügig von Manhattan hier raus, die Massen hatten üppig Freizeit und die Taschen voller Geld. Doch es war nur eine kurze Übergangszeit. Bald flog man lieber nach Florida, Coney Island begann zu verslumen. Es bleib der soziale Bodensatz aus den Armenvierteln, die sich nichts anderes leisten konnten. Die Plattenbauten hinter dem Strand, die zunehmend die putzigen alten Einfamilienhäuser ersetzten und Drogen sowie Gewalt nach Coney Island brachten, taten ihr Übriges.


Das ist seit fast 30 Jahren der traurige Stand der Dinge und jeder hier weiß schon lange, das etwas passieren muß. Frank Gluska, seit 26 Jahren Barkeeper im Ruby’s, nimmt die anstehenden Veränderungen deshalb gelassen: „Es ist wie mit Deiner Großmutter“, sagt er, während er am vorletzten Sonntagnachmittag der Saison im finsteren Schankraum für die zumeist älteren Trinker die Hausmarke „Ruby’s Amber“ zapft. „Sie ist alt und gebrechlich und Du weißt, daß sie es nicht mehr lange macht. Es tut weh’, aber man ist darauf vorbereitet.“ Dann wischt der pausbackige Mann mit dem schweren Brooklyner Akzent den modrigen Tresen ab und richtet eines der Hunderten von vergilbten Fotos vom alten Coney Island, die an die Wand hinter der Theke gepinnt sind. Aus der Jukebox tönt eine Schnulze von Tony Bennett. Der Laden verströmt das nostalgische Flair eines New York, das es schon lange nicht mehr gibt.

Weil es dieses New York hier und nur hier noch gibt, wird die Debatte um die Zukunft der paar Hundert Meter Boardwalk mit erbitterter Leidenschaft geführt. Es geht um weit mehr, als nur um ein paar Buden und einen Strandabschnitt für arme Leute. Es geht um das letzte Reservat eines New York, dem mit der Luxussanierung noch des letzten Winkels der Stadt in den vergangenen 20 Jahren gnadenlos der Garaus gemacht worden ist. „Coney Island ist die letzte Zuflucht der einfachen Leute“, sagt der Coney Island-Historiker und Buchautor Charles Denson.

Der Strand ist die letzte Bastion der Prol-Kultur von New York mit ihrem besonderen Charme, einer Kultur, die man vor 15 Jahren noch überall in der Stadt finden konnte – in den irischen und italienischen Arbeiterkneipen, am Times Square oder in Hell’s Kitchen auf der Westseite. Sie ist lärmend, frech, halbseiden, schlagfertig, ebenso hartgesotten wie letztlich liebenswürdig und vor allem eines – multikulturell. „Das ist der verdammte Schmelztiegel hier“, sagt Jorge, ein Latino-Bademeister mit gestähltem Oberkörper und Surfer-Mähne, während er nur 100 Meter von Ruby’s entfernt auf seinem Hochsitz hockt und aufmerksam die planschenden Kinder im flachen Wasser beobachtet. „Du hast hier die puerto-ricanischen Familien, da drüben die Schwarzen, die mexikanischen Fischer da oben am Pier, da hinten die Russen und dazwischen die Hipster aus dem Village.“

Doch jetzt geht es diese Kultur auch hier noch an den Kragen – zugunsten derselben keuschen und keimfreien Konsumkultur, die sich überall breit macht: Markenboutiquen, Starbuck’s und Fast-Food-Ketten statt fliegender Hot Dog-Händler, illegaler Bratfischverkäufer und Kneipen wie Ruby’s. Einige hier geben sich noch kämpferich, wie etwa die dicke Terry mit dem grell rosaroten Lippenstift und der farblich dazu passenden Mütze, die am Anfang vom Boardwalk Muscheln und Fritten verkauft: „Ich bin im April wieder hier, darauf kannst Du Deinen Arsch wetten“, sagt sie. „Wir überlassen Coney Island nicht den Reichen.“ Andere haben hingegen resigniert, wie Angi, bei der gleich hinter Ruby’s Kinder für einen Dollar Plastikenten aus einem künstlichen Teich fischen können. „Ich mache gerade meinen Führerschein, um Schulbusse fahren zu dürfen. Ich habe genug“, sagt sie. „Mir tut es nur um die Leute leid, die sich hier amüsieren können, ohne daß sie nachher pleite sind. Wo sollen die denn hin?“

Am Ende des hölzernen Stegs, der in Höhe des alten Steeplechase-Parks bald 200 Meter weit ins Meer ragt, haben sich wie jeden Tag die Fischer versammelt. Wie seit nunmehr über 30 Jahren steht Jose, ein sechzig Jahre alter Mexikaner neben dem noch etwas älteren Mann, den sie hier alle nur „Papi“ nennen. Papi hat tiefbraune ledrige Gesichtszügen und eine jüdische Jarmulke auf dem Hinterkopf. „Bislang ist doch alles nur Gerede“, wiegelt Papi die Ängste ab, dass dies der letzte Sommer hier gewesen sein könnte. „ Ausserdem – der Strand ist groß. Wenn ich hier nicht mehr fischen kann, gehe ich eben da rüber“, sagt er und zeigt auf einen großen Fels, der etwa einen Kilometer entfernt ins Meer ragt. Jose hingegen sagt, dass er das Fischen aufgeben wird, wenn er nicht mehr hierher kommen kann. Zusammen werden Papi und Jose hier in Zukunft jedenfalls wohl nicht mehr angeln.

An der Surf Avenue, die parallel zum Strand verläuft, sitzt derweil Dick Zigun auf einem Hocker vor seinem Theater. Seit 30 Jahren betreibt er hier eine „Sideshow“ – ein Kuriositätenkabinett mit Feuerschluckern und Kontortionisten, wie sie in der Frühzeit von Coney Island in Mode waren. Ihm kann niemand vorwerfen, daß ihm nichts am alten Coney Island liegt aber gegenüber dem, was jetzt bevorsteht, hat der bärtige Mitfünfziger mit der Nickelbrille und den großflächig tätowierten Armen kapituliert. „Es hat keinen Sinn, gegen den Kapitalismus anzukämpfen“, sagt er philosophisch. Dass Coney Island ein Strand für die Wohlhabenden wird, findet er nicht weiter schlimm: „Das war es vor 100 Jahren schließlich auch schon.“ Er selbst, dafür hat er gesorgt, wird allerdings auf jeden Fall bleiben – gerade hat er das Haus gekauft, daß seine Sideshow und sein Coney Island-Museum beherbergt. Das Coney Island der Aussenseiter und der Inkommensurablen wird also vorerst hier weiter leben: Als das, was es ohnehin schon längst ist, als Freak Show.