Thursday, July 26, 2007

Der Tag, an dem die Tour das Gelbe Trikot verlor

Pau. Es ist halb ein Uhr früh und Michael Boogerd schreitet rastlos in der Lobby des Hotels Mercure an der A 64 zwischen Pau und Tarbes auf und ab. Es ist nicht die Art und Weise, wie ein Radprofi gewöhnlich die Nacht vor einer langen Tour-Etappe verbringt, aber Boogerd muss seine Gedanken sortieren. Er weiß noch nicht, ob er am nächsten Tag wieder aufs Rad steigen soll, denn seine Mannschaft Rabobank hat ihren Kapitän Michael Rasmussen, den Träger des Gelben Trikots, am Abend gefeuert. Der Däne verschwand um kurz nach elf verschämt durch die Hintertür aus dem Teamhotel.

Boogerd ist verwirrt, ebenso wie seine Mannschaftskollegen und wie der Rest des Tour de France Fahrerfeldes, nachdem die Nachricht die Runde gemacht hat. Ist das jetzt endgültig der Tod der Tour de France, wie die linke französische Tageszeitung Liberation am Donnerstag früh titelt? Wird der gesamte Profiradsport auseinander fallen, macht das alles noch Sinn? Oder ist das eine Chance für die Tour, die beste Nachricht seit einer Woche, wie Tour Direktor Christian Prudhomme am Donnerstag früh am Start neben dem Casino von Pau zweckoptimistisch verkündet?

Am Hotel Mercure hat man in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag nicht mehr das Gefühl, dass die Tour eine Zukunft hat. Polizisten haben die schmucklose Bettenburg umstellt, Zimmer der Rabobank-Mannschaft werden durchsucht. Ein Los, vor dem kein Tour-Team mehr gefeit ist – Radsportler sind in dem Land mit dem härtesten Anti-Doping Gesetz Europas alle potenzielle Kriminelle.

Als die Gendarme um halb eins endlich abgeziehen, tritt der Sprecher des Teams, Jacob Bergsma in die Lobby und erklärt mit versteinerter Miene und tonloser Stimme die Lage. Team-Direktor Theo De Rooy, der emotional stark angegriffen ist, wie Bergsma berichtet, hatte nach der Mittwochsetappe Rasmussen wegen neuer Informationen zur Rede gestellt, die die vorherigen Erklärungen des Dänen zu seinen Verwarnungen durch den internationalen Radsportverband widersprachen. Rasmussen war mehrfach zu unangemeldeten Dopingkontrollen nicht auffindbar gewesen und hatte in den vergangenen Tagen gemeinsam mit seinem Rechtsanwalt immer verworrenere Geschichten aufgetischt, um diese Versäumnisse zu erklären. Den neuen Informationen hielt Rasmussens Lügengebäude jedoch nicht mehr stand. Er musste de Rooy eingestehen, dass er ihn hinters Licht geführt hatte.

Rasmussen hatte angegeben, im Juni eine unangemeldete Kontrolle verpasst zu haben, weil er kurzfristig nach Mexiko zum Training gereist war. Dummerweise wurde er genau zu dieser Zeit von dem italienischen Fernsehreporter Davide Cassani in den Dolomiten beim Training gesehen.Cassani hatte das schon in seiner Live-Reportage von der Tour de France vom 15. Juli berichtet, noch bevor Rasmussen das Gelbe Trikot übernahm. Der dänische Fernsehjournalist Niels Christian Jung hatte die Bemerkung gehört und daraufhin Cassani interviewt. De Rooy erfuhr von Rasmussens Widersprüchlichkeiten, nachdem das Interview am Mittwoch im dänsichen und im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden war.

Spätestens diese Episode machte deutlich, dass es Rasmussen in der Vergangenheit nicht aus Schusseligkeit versäumt hatte, den Dopingkontrolleuren seinen jeweiligen Aufenthaltsort fristgerecht und wahrheitsgetreu mitzuteilen. Rasmussen hatte offenbar ein kompliziertes System entwickelt, den immer häufigeren Trainingskontrollen zu entgehen. So hatte er es durch seine wechselnden Lizenzen, zuerst beim mexikanischen, dann beim monegassischen Verband, geschafft, drei Jahre lang jegliche unangemeldete Kontrolle zu vermeiden. In diesem Juni, als er in den Dolomiten herum radelte, bekam der Radsportverband UCI einen Brief mit einer Ortswechsel-Meldung von Rasmussen, der in Mexiko abgestempelt worden war, wie Niels Christian Jung heraus bekam. Rasmussen muss von Italien aus diesen Brief nach Mexiko geschickt haben, wo eine Kontaktperson den Brief nach Lausanne weiter leitete. All das, so wird spekuliert, inszenierte Rasmussen, um im Juni ungestört mit einem italenischen Wunderdoktor die Tour de France vorzubereiten.

Dass Rasmussen sich mit seinen Lügengeschichten bis zur 16. Etappe der Tour durchmogeln konnte, lässt indes niemanden im Radsport gut aussehen. Es gibt bis heute keine Antwort darauf, warum der Radsportverband UCI zuließ, dass Rasmussen bei der Tour starten durfte. Er hatte Rasmussen mehrfach verwarnt, es aber für sich behalten, dass der Dände auffällig geworden ist. „Hätten wir am Start der Tour gewusst, was wir jetzt wissen“, so Christian Prudhomme am Donnerstag vormittag, „wäre Rasmussen nie gestartet.“ Die Tour de France muss sich die Kritik gefallen lassen, dass sie trotz ihrer martialischen Anti-Doping-Rhetorik die Kosten einer Schadensersatz-Klage durch Rasmussen gescheut hat und ihn lieber die Fans eine Woche lang an der Nase herum führen ließ.
Zu guter Letzt muss sich die Mannschaft Rasmussens fragen lassen, warum sie so lange zu ihm hielt. Erst auf Druck der holländischen Bank, die seinen Rennstall finanziert, stellte Theo de Rooy Herrn Rasmussen unangenehme Fragen.

Aber trotz Allem rollte die Tour am Donnerstag früh mit beinahe schon pathologischer Stoik auf ihre viertletzte Etappe. Kinder ließen sich Kappen signieren, Teenagerinnen ließen sich mit Rennfahrern fotografieren. Der junge Spanier Alberto Contador, Nachrücker für Rasmussen, drängte sich unter lauten Anfeuerungsrufen spanischer Anhänger voller Kampfesmut durch die Menge zum Start, um erstmals in seinem Leben das Gelbe Trikot zu erstreiten. Auch Boogerd und der Rest der Rabobank-Mannschaft haben sich dazu durchgerungen, noch bis Paris zu Radeln. „Ich befürchte, der Radsport ist nicht tot zu kriegen“, seufzte der Direktor der deutschen Equipe Gerolsteiner angesichts dieses Treibens. Offensichtlich hat ihm sein Gewerbe schon einmal mehr Spass gemacht, als an diesem Tag.