Thursday, July 19, 2007

War da was? Am Start in Marseille

Jean-Claude Godin ist bester Dinge an diesem herrlichen Hochsommervormittag. Zusammen mit Tour de France-Direktor Christian Prudhomme steht der Bürgermeister von Marseille auf einer Bühne im Parc Cadot, unweit des alten Hafens der Mittelmeerstadt und geniesst die Festtagsstimmung zum Start der elften Etappe. „Wir haben die Begeisterung der Menschen in London gesehen“, ruft der Stadtvorsteher stolz den sich drängelnden Fans entgegen. „Ich glaube wir in Marseille übertreffen das noch.“ Prudhomme nickt dazu mit dem Kopf und strahlt über das ganze Gesicht. Sollte er sich wegen des Dopingfalls Sinkewitz und des Boykotts der deutschen Fernsehsender gegrämt haben, so hat er dies spätestens jetzt vergessen.

Die Tour de France rollt weiter, die Probleme des größten deutschen Rennstalls und die Empfindlichkeiten des deutschen Fernsehens, werden bestenfalls am Rande wahgenommen. Maurice Pleury etwa, ein rüstiger Marseillais, der behauptet „seit 70 Jahren“ Radsportfan zu sein, lässt sich seinen Tour-Spass nicht im geringsten verderben. Doping habe es doch schon immer gegeben sagt er, früher, als er noch selbst Radrennen fuhr, sei es sogar noch viel schlimmer gewesen. Deshalb könne er die Aufregung nicht verstehen und finde die Entscheidung des deutschen Fernsehen „idiotisch“. Mehr will er nicht sagen, denn jetzt kommen nach und nach die Fahrer und er will nicht verpassen, seine Stars aus der Nähe zu sehen.

Im Tour-Village, dem reisenden Zeltdorf und täglichen Frühstückstreffpunkt für den Tour-Tross, sitzt Richard Virenque am Stand der Supermarktkette Champion, eines der Tour-Sponsoren. Der frühere französische Radpsortheros sowie geständige Dopingsünder hat die Blätter des Tages vor sich ausgebreitet und kommentiert die Schlagzeilen in ein Fersnseh-Mikrofon. „Überraschend und paradox“ findet er die Reaktion des deutschen Fernsehens auf den Fall Sinkewitz. Wenn sie den Radsport schneiden, so der ehemalige Bergkönig der Tour und Ullrich-Herausforderer, müssten sie auch alle anderen Sportarten ausblenden.

Solches Unverständnis für die Entscheidung der deutschen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten teilt Virenque hier mit der großen Mehrheit der Tour-Familie. Der Präsident der Tour-Holding Gesellschaft ASO, Patrice Clerc, etwa hatte der Sportzeitung L’Equipe, die ebenfalls seiner Firma gehört, gesagt, dass er nicht nachvollziehen könne, warum die Sender seine Veranstaltung für den Fall Sinkewitz bestrafen. „Wenn am Eingang von einem Fussballstadion Leute mit Waffen erwischt werden, bestraft man ja auch nicht Veranstalter der Partie dafür.“

Der Reporter einer großen französischen Nachrichtenagentur, der anonym bleiben will, glaubt gar, dass die Entscheidung von ARD und ZDF dem Radsport mehr schade als nutze. „Am meisten tut das doch Gerolsteiner und T-Mobile weh“, sagt der langjährige Radsportkorrespondent des Dienstes, während er bei einem Kaffee die Blätter des Tages studiert. „Und das sind die Mannschaften, die am meisten gegen das Doping tun. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Sender sich sehr gut die Konsequenzen ihres Schrittes überlegt haben. Erst haben sie zehn Jahre lang überhaupt keine Fragen gestellt und jetzt plustern sie sich auf. Das ist Heuchelei.“

Es geht gegen Mittag im Parc Cadot und die südfranzösische Sonne beginnt unangenehm zu brennen. Die Werbekarawane ist gerade in Richtung des Etappenziels Montpellier los gerollt, die Mannschaftsbusse trudeln ein und nehmen ihren Platz auf dem Startgelände ein. Kinder drängen sich mit Kappen und Postern an die Absperrungen, um sie von ihren Lieblingsradlern signieren zu lassen. Mechaniker entladen die Rennmaschinen und nehmen letzte Einstellungen an den Sportgeräten vor.

Auch hier ist man sich einig, dass der Ausstieg der deutschen Fernsehsender eine völlig unangemessene Reaktion war. „Niemandem gefällt ein positiver Dopingfall“, sagt etwa der Direktor der Quick Step-Mannschaft und Vorsitzende der Profi-Team Vereinigung Patrik Lefereve, während er am Bus seiner Mannschaft lehnt. „Aber wir geben viel Geld für den Kampf gegen Doping aus. Und wenn wir Erfolg haben, laufen die Fernsehsender weg. Das ergibt keinen Sinn.“ Nebenan, beim spanischen Team Caisse d’Epargne, das den Puerto-Verdächtigen Alejandor Valverde unter Vertrag hat, will man unterdessen lieber überhaupt nicht über die Causa Sinkewitz reden. Mannschaftleiter Jose-Miguel Echavarri enthält sich höflich eines Kommentars. Die umstehenden spanischen Reporter fühlen sich jedoch in ihrem gerade intensiv werdenden Sportfachgespräch gestört und meckern darüber, dass da schon wieder einer das lästige Dopingthema aufs Tapet bringt.

Bei den deutschen Kollegen vom Team Gerolsteiner ruft die Entscheidung der Sendeanstalt zwar Verwunderung hervor: „Die legen ihre Ethiklatte irgendwo an. Ich bin mal gespannt ob sie das durchhalten“, nörgelt Gerolsteiner-Chef Hans Michael Holczer. Wirklich wütend ist er jedoch nicht auf das Fernsehen, sondern auf Patrik Sinkewitz. „Wenn er wirklich bewusst manipuliert hat, dann ist das angesichts der Lage des deutschen Radsports eine unglaubliche Dreistigkeit.“ Wenn die Vereinigung der Profi-Mannschaften Sinkewitz für den Schaden, den er dem Sport zugefügt hat, nicht belange, so Holczer, dann werde er das persönlich tun.

Langsam wird die Stimme des Streckensprechers lauter und aufgeregter, der Start rückt näher. Die Fahrer tragen sich rituell in die Startkladde ein und grüssen die Fans mit einem kurzen Antippen ihrer Rennmützen. Dann nehmen sie träge Aufstellung. Ein ganz normaler Arbeitstag bei der Tour beginnt.