Sunday, July 15, 2007

Turbulenter Tag in den Alpen: Stürze, Atttacken und noch immer keine Übersichtlichkeit im Classement

Tignes. Linus Gerdemann ist eigentlich sehr geduldig, wenn es darum geht, die Wünsche von Reportern zu befriedigen, doch manche Ding gehen einfach vor. Als im Ziel von Tignes am Sonntagnachmittag durch den Mikrofonwald rings um ihn herum seine Freundin Annika hinter einer Absperrung erspähte, waren ihm die PR-Pflichten erst einmal egal. Der junge Münsteraner drängte sich durch die Menge und ließ sich für einen langen, innigen Kuß in die Arme seiner Geliebten sinken.

Das hatte sich Gerdemann auch redlich verdient – nach seinem Bravourstück am Vortag, aber auch nach einem turbulenten Tag im Gelben Trikot, den er aller sichtbaren Strapazen zum Trotz als „Vergnügen und Ehre“ bezeichnete. Am Ende musste Gerdemann das Trikot zwar an den Etappensieger, den dänischen Bergspezialisten Michael Rasmussen abgeben, er verteidigte jedoch trotz großer Erschöpfung von den Härten der Samstagsetappe sowohl einen achtbaren zweiten Platz mit einem überschaubaren Rückstand von 43 Sekunden, als auch sein weißes Trikot für den besten Jungprofi.

Dass Gerdemann sein Gelbes Trikot am Sonntag abgibt, war sogar von der T-Mobile Mannschaftsleitung geplant. Allerdings, so die Hoffnung von Team-Direktor Rolf Aldag, sollte der neue Führende der Tour de France in Tignes nicht Michael Rasmussen heißen, sondern Michael Rodgers. Lange sah es auch gut aus für den Mannschaftskollegen von Gerdemann, der Australier hielt sich in der Spitzengruppe um Rasmussen und sah mit seinem Zeitvorspung aus der ersten Tourwoche wie der sichere neue Gelbträger aus. Doch in der Abfahrt vom Col de Roselend, versteuerte Rodgers sich in einer Kurve, schlug auf den Asphalt auf und brach sich das Schlüsselbein. Unter starken Schmerzen quälte er sich noch eine Weile lang den nächsten Pass hoch, musste jedoch schließlich vom Rad steigen. Damit sieht Linus Gerdemann jetzt wie der eindeutige Kapitän von T-Mobile, doch davon wollte er nach dem aufreibenden Wochenende erst einmal nichts wissen. „Darüber denken wir morgen am Ruhetag nach.“ An Angriffe auf Etappensiege und Trikotwertungen wollte Linus Gerdemann erst wieder nachdenken, nachdem er sich ausgeschlafen und den Bauch vollgeschlagen hatte.

Michael Rodgers war allerdings nicht der einzige T-Mobile-Fahrer, für den am Sonntag nach einem schweren Sturz die Tour zu Ende ging. Patrick Sinkewitz war schon auf der Abfahrt vom Ziel in der Skistation Tignes zurück zum fünf Kilometer entfernt geparkten Manschaftsbus, als ihm ein Zuschauer vor das Vorderrad sprang. Eine Fernsehjournalistin, die den Zusammenprall sah, berichtete, dass sowohl Sinkewitz, als auch der Zuschauer bewusstlos auf der Strasse liegenblieben. Sinkewitz kam allerdings offenbar mit einem Nasenbeinbruch davon. Der Fan soll sich hingegen in einem kritischen Zustand befinden.

Mit Michael Rasmussen übernahm am Sonntag ein Mann das Gelbe Trikot, der im Gegensatz zu Linus Gerdemann eher zu jener Generation von Radsportlern gehört, die die vielzitierte „alte Mentalität“ des Sports verkörpert. Viele Spekulationen ranken sich um den Dänen. So arbeitete er mit demselben italienischen „Preparatore“, Paolo Rosalo, zusammen, der auch die Mountainbike-Olympiasiegerin Paola Pezzo betreut hatte. Pezzo wurde 1997 wegen Anabolika-Dopings gesperrt. Darüberhinaus pflegt Rasmussen längere Trainingsaufenthalte in Mexiko zu verbringen, wo er nur selten von Dopingkontrolleuren besucht wird.

Hinter Rasmussen zeigten sich auf der Sonntagsetappe auch erstmals die designierten Favoriten auf den Tour-Sieg. In einer Gruppe hinter dem schmalen Dänen setzten sich Iban Mayo, Alejandro Valverde, Cadel Evans, Andrej Kaschekin, Frank Schleck und Christophe Moreau vom Feld ab. Besonders initiativ war in dieser Formation der 37 Jahre alte Moreau, der schon eine starke Frühjahrssaison hinter sich hat und jetzt aussichtsreich auf dem vierten Rang liegt. Moreau ist der letzte aktive Fahrer jener Festina-Mannschaft, der während der Tour 1998 nach Polizierazzien systematischer Mißbrauch des blutbildenden Hormons EPO nachgewiesen wurde.

Die beiden Astana-Kapitäne Alexandre Vinokourov und Andreas Klöden begnügten sich am Sonntag mit ihren noch immer schmerzenden Sturzverletzungen von vogestern derweil damit, vor dem Ruhetag im Rennen zu bleiben und nicht allzuviel Zeit zu verlieren. Klöden, der noch am Samstag kaum gehen konnte, fand dabei am Schlussanstieg sogar noch die Kraft, in der Hauptgruppe das Tempo zu forcieren und den Abstand auf Rasmussen überschaubar zu halten. „Die Tour ist noch nicht vorbei“, sagte Vinokourov im Ziel, sichtbar zufrieden, dass er und Klöden sich bis zum Ruhetag hatten retten können. In der Tat fängt sie gerade erst an, interessant zu werden.