Thursday, July 12, 2007

Der Tag an dem Tom Simpson starb


Der 13. Juli 1967 war der Tag, an dem Hans Blickensdörfer das Hassen lernte. Wann immer der legendäre Stuttgarter Sportreporter bis zu seinem eigenen Tod 1997 an jenen heissen Julifreitag zurück dachte, verspürte er nichts als Ekel. Es war der Tag, an dem der englische Radprofi Tom Simpson bei der Tour de France mit einer Überdosis Amphetaminen im Leib im Anstieg zum Mont Ventoux leblos aus dem Sattel kippte.

Selbst die Landschaft war Blickensdörfer im Rückblick an jenen Hochsommertag widerlich. Der Ventoux, schrieb er in seinen Tour-Memoiren, sei ein „häßliches, geröllübersätes Ungetüm“ gewesen, „das sich der Tour-Karawane in den Weg stellte, als ob es gelte, die Absurdität des Wettkampfs auf der Landstrasse mittels Zweirädern zu beweisen.“ Das ganze Rennen kam Blickensdörfer mit einem Mal „nutzloser als Brotbacken“ vor, und auch die Fans riefen bei Blickensdörfer Abscheu hervor, mit ihrem „morbiden Appetit auf das Schauspiel der Strapaze.“ Am meisten hasste Blickensdörfer jedoch plötzlich sein eigenes Gewerbe, die „Journalisten, die mit kalter Geschäftsmässigkeit Abstände massen, Rückennummern notierten und ihre Notizblöcke bekritzelten“ und die sich für „die Nöte der Rennfahrer weniger interessierten, als für eine schnelle Verbindung mit der Redaktion.“

Den Höhepunkt erreichte Blickensdörfers Hass, nachdem Tour Co-Direktor Felix Levitan um kurz vor 18 Uhr im Pressesaal von Carpentras mit tonloser Stimme bekannt gab, dass Tom Simpsons Herz im Krankenhaus von Avignon aufgehört hatte zu schlagen. Blickensdörfer schaute sich um und beobachtete den französischen Kollegen Jean Leuillot dabei, wie er „weinend und stöhnend und trotzdem hurtig“ seine Reportage über den Tod von Simpson zu Papier brachte, wohl wissend, dass dieser Artikel viele tausend Menschen ebenfalls zu Tränen rühren würde. „Leuillot genoss seine Trauer“, schrieb Blickensdörfer. „Er spürte die Blicke auf sich gerichtet, und sein Verhalten war das des Mimen, dem die Ausstrahlung seiner Verzweiflung Befriedigung verschaffte.“

Der Tod von Tom Simpson rüttelte Hans Blickensdörfer für einen flüchtigen Augenblick lang wach. Für einen Moment erkannte der Reporter den Wahnsinn und den Zynismus jenes Spektakels, das ihn vorher und nachher jahrzehntelang zu mitreissenden Reportagen inspirierte. Reportagen, die er wenigstens einen Tag lang als Werbetexte für einen Menschen verachtenden Zirkus durchschaute. Noch das elende Verrecken auf dem glühenden Asphalt verwandelten diese pompösen Oden an das Heldentum in eine schaurig-schöne Seifenoper zum Morgenkaffee.

Der Tod von Tom Simpson löste allerdings nur bei Wenigen eine solch klare Einsicht aus oder gar, wie bei Blickensdörfer, eine Scham über die eigene Rolle im brutralen Gladiatorenspiel der Tour de France aus. Kaum jemand stellte wie Blickensdörfer an jenem Tag die Tour grundsätzlich in Frage. Die meisten Angehörigen der Radsportfamilie gingen noch am Tag von Simpsons Tod, spätestens jedoch am Tag danach zur Tagesordnung über. Dass gedopt wird überraschte eigentlich niemanden, dass einer daran stirbt ist zwar bedauerlich, aber ein Risiko, das eben zu dieser mörderischen Veranstaltung dazu gehört. Niemand hatte nach dem Tod von Simpson ein wirklich ausgeprägtes Interesse daran, die Tour zu reformieren. Und daran hat sich, wie die trägen und zähen Reaktionen auf die Doping-Skandale von 1998 und von 2006 zeigen, im Grunde bis heute nichts geändert.

Eine vorübergehende Debatte in den französischen Zeitungen darüber, ob die Anforderungen der Tour nicht unmenschlich seien, wurde nach Simpsons Tod rasch wieder erstickt. Tour-Direktor Jacques Goddet verwies auf Autorennen und auf das Bergsteigen als Disziplinen, bei denen wesentlich mehr Sportler ums Leben kamen, als im Radsport. Co-Direktor Levitan zeigte in einer bis heute beliebten Geste mit dem Finger auf die Medien, die „den geringsten Vorfall über die Maßen“ aufbliesen. Der Tod eines Menschen war Levitan anscheinend nicht gravierend genug, um darum ein großes Aufhebens zu machen.

Die Fahrer zeigten sich angesichts des Todes von Simpson ähnlich dickhäutig. Der Lance Armstrong jener Zeit, der fünffache Tour-Sieger Jacques Anquetil – dafür berüchtigt bis zu 235 Tage pro Jahr Rennen zu fahren - gab ein wenig glaubwürdiges Lippenbekenntnis für eine geringere Gesamtbelastung der Rennfahrer über die Saison hinweg ab. Die Tour für die Fahrer selbst leichter zu machen, konnte er sich nicht vorstellen: „Wenn die Tour leicht wäre, wäre sie nicht mehr die Tour“, sagte er. Im selben Atemzug erneuerte Anquetil ohne rot zu werden seine häufig vorgetragene Forderung, kontrolliertes Doping für Profis unter ärztlicher Aufsicht frei zu geben.

Auch den meisten von Anquetils Kollegen blieben nach Simpsons Tod die Speed-Pillen nicht im Hals stecken. Wie Anquetil zur Begründung seines Plädoyers für eine kontrollierte Freigabe bemerkte, hatten Radprofis schon immer Stimulanzien eingenommen und sie hatten nun nicht vor, ihre Gewohnheiten plötzlich zu ändern. Bei den Dopingkontrollen während der Tour1968 fiel zwar kaum ein Fahrer auf. Das lag aber nicht etwa daran, dass die Fahrer etwas aus Simpsons Tod Anst gelernt hatten, sondern vielmehr an der Laxheit der Tests.

Der Historiker Christopher Tompson beschreibt in seinem Tour de France-Buch, wie einfach es damals für die Fahrer war, „eimerweise“ Fremdurin zu den Dopingproben zu tragen. Zudem wurden die Tests zumeist angekündigt, man konnte bequem die Präparate rechtzeitig absetzen. Und wenn tatsächlich einmal jemand erwischt wurde, konnte er zumeist ohne Schwierigkeit die Strafen abwenden. So erwirkte der Sieger der 67er Tour, Roger Pingeon, vor Gericht, dass seine ohnehin nur vier Monate kurze Sperre wegen Amphetamin-Mißbrauchs wieder ausgesetzt wurde. Die Dopingbekämpfung, die zu Beginn der 60er Jahre im Radsport eingesetzt hatte, war weitgehend eine Farce.

Dass er den Tod von Simpson nicht verhinderte war eine eklatante Blamage dieses halbherzigen Anti-Dopingkampfes. Aber selbst diese Peinlichkeit bewirkte nicht, dass entschlossen gegen Doping vorgegangen wurde. Der französische Staat, der 1965 ein Anti-Doping Gesetz erlassen und 1966 unter lautem Protest der Fahrer die ersten Tests bei der Tour durchgeführt hatte, wollte sich offenkundig nicht unbeliebt machen, in dem er eine so populäre Veranstaltung, ein „nationales Monument“ gar, torpediert. Er übergab die Dopingkontrollen an den Radsport-Verband, der seinerseits wenig Interesse daran zeigte, mit vielen positiven Tests schlechte Publicity zu erzeugen.


Erst 1998 machte der französische Staat in Person der kommunistischen Gesundheitsministerin Marie-George Buffet von den Mitteln, die er seit 1965 und seit der Novelle des Anti-Doping-Gesetzes 1989 in den Händen hielt, Gebrauch. Die Reaktion der Fahrer war die gleiche wie bei den ersten Dopingtests 1966 – man war entrüstet. Das Peloton streikte, aber nicht etwa wegen der Unbarmherzigkeit des Rennens, sondern dagegen, „wie Kriminelle“ behandelt zu werden. Das Publikum sollte sein „Schauspiel der Strapaze“, wie Blickensdörfer es genannt hatte, bekommen – schließlich ist dieses Schauspiel die ökonomische Grundlage der Tour und aller an ihr Beteiligten. Wie dieses Schauspiel produziert wird und dass die Methoden dazu – in den 90er Jahren war es hauptsächlich der Gebrauch des Blutdopingmittels EPO – lebensgefährlich sind, ging niemanden etwas. Das war und ist Betriebsgeheimnis.

Auch von den Funktionären wurde der Übergriff 1998 als unangemessene Einmischung betrachtet. Er verstehe die Entrüstung der Fahrer, sagte der Präsident des Radsportverbandes UCI, Hein Verbruggen. Und Tour-Chef Jean Marie Leblanc gab trotzig bekannt: „Wir wollen die Tour, die Fahrer wollen die Tour und die Fans, denen wir verpflichtet sind wollen die Tour. Auch wenn die Intellektuellen in Paris das nicht verstehen.“ Die Tour ist, was sie ist, und auch wenn Leblanc das so deutlich nicht auszudrücken wagte, gehören die schmutzigen Seiten eben dazu.

Ganz ähnlich hatte bereits Tour-Direktor Jacques Goddet 1967 reagiert. Nach dem Tod von Simpson rief er zwar theatralisch zur moralischen Erneuerung der gesamten Gesellschaft auf, um den wachsenden Drogenmißbrauch in allen Bereichen einzudämmen. An seiner eigenen Veranstaltung sah er jedoch nichts Problematisches, nichts, was etwa den Mißbrauch von Pharmazeutika fördere.

Die Tour war für Goddet eine Art Schaukasten für die wundervollen Errungenschaften der Moderne. Goddet liebte die Technik und er liebte die Beschleunigung, die das Leben im 20. Jahrhundert erfuhr und von beidem – Technik und Geschwindigkeit - gab es bei der Tour reichlich. Der Athlet war für Goddet der Vorreiter dieser „Modern Times“, ein „freiwilliger Märtyrer“ für den Fortschritt, wie er schrieb. Auf den Gedanken, dass all diese Beschleunigung und all dieser Fortschritt den unmodernen alten Körper vielleicht überfordern könnte, kam Goddet gar nicht erst.

Die Athleten und Manager waren da realistischer. Ein Jahr zuvor hatte Gaston Plaud, der Direktor von Tom Simpsons Mannschaft, gesagt: „Wer bei der Tour an den Start geht, weiß worauf er sich einlässt.“ Tom Simpson wusste offenkundig, was er trat, er hatte innerlich den Teufelspakt mit dem Radsport unterzeichnet. Vor der Etappe von Marseille nach Carpentras hatt er mehr als acht Minuten Rückstand auf den Gesamtführenden Roger Pingeon. Eine gnadenlose Attacke am Mont Ventoux war seine letzte Chance auf das Gelbe Trikot. Dass eine solche Attacke ohne Hilfsmittel nur wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, wusste er auch. Und er war sich mit Sicherheit der Tatsache bewusst, dass er mit der Kombination aus Drogen und der Belastung, die ihm bei seinem Angriff bevorstand, seine Unversehrtheit riskierte.

Insofern war der Tod von Tom Simpson zwar ein Unglück aber aus Radsportsicht keine Katastrophe. Es war ein mehr oder weniger einkalkulierter Betriebsunfall. Dass so etwas im Prinzip beim Spektakel Tour jederzeit vorkommen kann, war schon immer allen klar. Der tödliche Sturz des Spaniers Francesco Cepeda 1935 am Galibier etwa, schlug bis auf eine kurze Meldung unter dem Rennbericht des Tages und einer Schweigeminute am nächsten Tag kaum Wellen. Die Zeitung L’Auto schrieb, dass Cepeda bei der treuen Erfüllung seiner Pflicht gestorben sei – wie ein braver Soldat, zu dessen Geschäft das Sterben nun mal dazu gehört.

Der Tod ist eine Grundzutat des Radsports, und ein wenig macht er auch seine Faszination aus. Lance Armstrong sagte einmal, dass seine Liebe zum Radsport nicht zuletzt darauf gründe, dass der Sport mit der ganzen Palette menschlicher Erfahrungen aufwarten könne – inklusive dem Tod. Armstrong spielte auf den Tod seines Mannschaftsgefährten Fabio Casartelli an, der 1995 nach einem Sturz auf einer Pyrenäenabfahrt mit dem Kopf gegen eine Strassenbegrenzung prallte. Aber Armstrongs Aussage lässt sich ohne Weiteres verallgemeinern. Dass das Drama der Tour todernst ist, macht seinen besonderen Kitzel aus.

Die Art und Weise, wie die Radsportwelt auf den Tod von Tom Simpson reagierte belegt nur allzu deutlich, dass sie den Tod auf der Landstrasse als Berufsrisiko toleriert. Um das Risiko auszuschließen, hätte der Radsport nach 1967 zu etwas völlig anderem mutieren müssen, zu etwas bravem, harmlosen, zu etwas, das mit Sicherheit auf alle Beteiligten eine deutlich geringere Anziehung ausübt. Das ist nicht geschehen und bis heute möchte das niemand wirklich.

Vor seiner Großattacke im vergangenen Jahr, nach der er positiv auf Testosteron getestet wurde, lag Floyd Landis beinahe exakt so im Rennen wie 1967 sein Kollege Simpson vor dem 13. Juli. Landis hatte sich weder von den Gesundheitsrisiken des Dopings schrecken lassen, noch hatte ihn der Rauswurf von Ivan Basso und Jan Ullrich zu Beginn der Tour vom Doping abgehalten. Und so machte die Tour von 2006 deutlich, dass der Starrsinn des Radsports, der sich in den Äußerungen von Verbruggen und Leblanc 1998 gezeigt hatte, gegen die Moralvorstellungen von Journalisten, „Intellektuellen“ aus Paris, Verbänden und letztlich auch gegen den Staat behauptet hatte. „Es hat sich nichts geändert“, sagte der Ex-Radprofi Paul Kimmage, der als einer der wenigen Insider in seinen Memoiren ausgepackt hatte, als er 2006 als Journalist zur Tour zurück kehrte. „Ich werde bis heute als Verräter behandelt, während überführte Dopingsünder wie David Millar nach ihrer Sperre mit offenen Armen empfangen werden.“

Angesichts dieser offenkundigen Unreformierbarkeit lässt der Radsport beim Betrachter damals wie heute wohl nur zwei Haltungen zu. Die eine ist, sich von dem gesamten Betrieb und allen, die an ihm Teil haben, angewidert abzuwenden – so wie Hans Blickensdörfer das am 13. Juli 1967 wenigstens ein paar Stunden lang tat. Die andere ist, sich der Faszination des Spektakels zu überlassen und die schmutzigen kleinen Geheimnisse, die dahinter stecken, auszublenden. So, wie es Hans Blickensdörfer bereits 1968 wieder tat. Und mit ihm die komplette Tour-Karawane.