Prolog in London - Fest der Unbeirrbaren
Enrico Delgano muss ein Schauer über den Rücken gelaufen sein, als er auf der Startrampe stand und über die prachtvolle Whitehall Street zwischen dem britischen Parlament und den königlichen Stallungen blickte. Die Sonne strahlte ausnahmsweise über London und rechts und links der Strasse konnten es die drei Reihen tief gedrängten Fans kaum mehr erwarten, bis der junge Spanier als erster Fahrer den ersten Kilometer der diesjährigen Tour de France unter die schmalen Reifen nimmt. Schon am frühen Morgen waren sie in Londons Präsentierviertel Westminster geströmt und hatten sich unter der Lord Nelson Statue und entlang der Constitution Hall die besten Plätze gesichert. Als um Punkt 15 Uhr der elektronische Piepser der Zeitmessanlage dann endlich Delgano auf den Kurs rund um den Buckingham Palace und durch den Hyde Park entließ, wurde er bejubelt, als sei die Tour schon zu Ende und als fahre er mit dem Gelben Trikot über die Champs Elysees.
Eine Million Menschen vermutete der Streckensprecher entlang des acht Kilometer langen Kurses und auch wenn diese Schätzung vermutlich von lokalpatriotischer Begeisterung geprägt war, konnte man ohne Risiko von einer großen Kulisse sprechen. Von einem etwaigen Tour-Überdruss der Fans angesichts der inflationären Doping-Meldungen aus dem Radsport konnte jedenfalls kene Rede sein. Im Gegenteil, zwischen Trafalgar Square und Kensington Gardens schienen noch mehr Menschen zu stehen, als beim Grand Depart zum Tour Jubiläumsjahr 2003 in Paris.
„Es ist einfach der großartigste Sport, den es gibt“, begründete Richard Campbell, ein graumellierter sportlicher Gentleman in seinen frühen 60er Jahren, warum er aus Ostengland extra nach London gekommen war, um hier dabei zu sein. Schon sein ganzes Leben lang verfolge er die Tour und fahre selbst Rennrad, berichtete Campbell, während er mit seiner Frauam Charing Cross in der Sonne darauf wartete, dass die ersten Radler mit Tempo 50 an ihm vorbei surren. Deshalb sei es für ihn klar gewesen, so Campbell, dass er kommt, wenn die Tour schon einmal in England ist.
Als Campbell erklären soll, wie er seine Begeisterung mit dem Wissen um das Dopingproblem in Einklang bringt, verheddert er sich allerdings. „Schließlich waren die Radfahrer schon immer alle gedopt“, sagt er zuerst. Deshalb sei es doch egal, weil ja trotzdem die besten gewinnen. Aber sicher, schränkt er ein, das Doping sei nicht gut und es werde Zeit, dass damit aufgeräumt wird. Ober er Hoffnung habe, dass der Sport irgendwann sauber werde? Ja, vielleicht , irgendwann, aber das dauere gewiss noch lange. Die jungen Fahrer seien aber bestimmt sauber, glaubt er, aber das klingt nur so daher geredet - so richtig gründlich möchte er über das Thema offensichtlich lieber nicht nachdenken.
Für solche Treue wider besseres Wissen sind die Rennfahrer ihren Fans auf den Knien dankbar. Richtiggehende Erleichterung war am Samstag rund um die Mannschaftsbusse im St. James Park darüber zu spüren, dass jetzt die Tage mit den quälenden Medienterminen vorbei sind und dass es auf die Strecke zu den Anhängern geht. Die Fahrer haben die Nase voll von den ewig gleichen bohrenden Fragen der Journalisten. Wenn sie auf dem Rad sitzen und alleine mit dem Jubel der Unbeirrbaren sind, dann können sie sich zumindest einbilden, dass alles so ist wie immer, dass es keinen Generalverdacht gibt und dass der Radsport nicht als Ganzes auf dem Spiel steht.
Und vielleicht steht der Radsport ja auch gar nicht auf dem Spiel. Wenn man sich am Samstag in Westminster umschaute, hatte man jedenfalls nicht den Eindruck, dass man sich um ihn Sorgen machen muss. Die doppeldeutige Schlagzeile der halboffiziellen Pariser Tour-Zeitung L’Equipe „God Save the Tour“ schien jedenfalls angesichts der allgemeinen Londoner Freudigkeit wie miesepetrige Schwarzmalerei. Und genau das werfen die Sportler den Journalisten vor: „Ich habe die Schnauze gestrichen voll von den Dopingfragen“, sagte am Tag vor dem Prolog etwa genervt der deutsche Profi Jens Voigt. „Zum Glück sind die Meinung der Journalisten und die Meinung der Fans zwei unterschiedliche Dinge.“
Immerhin stellte sich Voigt den Fragen trotz allem. „Offenheit ist im Moment sicher der beste Weg“, sieht Voigt ein. „Auch, wenn man dafür dann noch eins in die Fresse kriegt.“ Einige seiner Kollegen sehen das hingegen nicht so. Der Spanier Alejandro Valverde, der unter Verdacht steht, mit dem spanischen Dopingarzt Eufemiano Fuentes zusamen gearbeitet zu haben, weigert sich beispielsweise strickt, über das Thema zu reden. „Meine Geduld ist zu Ende“, meinte er am Freitag bei seiner Pressekonferenz im ExCel Kongresszentrum in den Docklands westlich der Londoner Innenstadt. Dass die Fragen nur deshalb immer wieder kommen, weil er keine befriedigenden Antwort darauf gibt, wollte Valverde hingegen nicht einsehen. „Was soll ich sagen. Es gibt doch nur Gerüchte und keine Beweise.“ Der Gedanke, dass er durch Offenheit die Gerüchte ausräumen könnte, war ihm scheinbar fremd.
Angesichts einer solchen Haltung konnte man nur dem Ironman-Champion Faris Al Sultan zustimmen, der als Zaungast zum Tour-Prolog nach London angereist war. „Die Radprofis sind doch selbst daran Schuld, was jetzt auf sie einstürzt.“ Unter distanzierten Beobachtern hat der Radsport seine Sympathie verspielt, selbst bei Leuten, die wie Al Sultan dem Sport nahe stehen. Alleine die Fans sind noch immer nachsichtig. „Ich glaube, viele Fahrer wären gerne sauber“, sagte etwa Paul Reid, der aus der nordenglischen Provinz Cumbria gekommen war, um sich den ganzen Tag an der Whitehall Street um die Ohren zu schlagen. „Aber man hat halt als Radfahrer gute und schlechte Tage. Als Profi kann man sich aber keine schlechten Tage erlauben.“ Eine zweifellos klarsichtige Erkenntnis. Scheinbar jedoch keine, die das Vergnügen am Streckenrand zu trüben vermochte.
Sebastian Moll
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