Paul Kimmage: "Wir hätten vor 17 Jahren schon da sein können, wo wir jetzt sind"
Der Ire Paul Kimmage ist Ende der Achtziger Jahre als Radprofi bei der Tour de France gestartet. In seinem Buch von 1990, „Rough Ride“, beschrieb er als erster Radprofi offen und detaillert, wie wie man als Athlet unweigerlich in das durchgängige Dopingsystem des Radsports hineingezogen wird. Heute arbeitet Kimmage als Journalist bei der Sunday Times in London. Seine Kolumne zur Tour ist eine schonungslose Anklage der Dopingkultur im Radsport.
Herr Kimmage, wie verkauft sich Ihr Buch heutzutage?
Seit der Operacion Puerto und seit ich meine Kolumne in der Sunday Times habe hervorragend. Das ist einerseits schön, andererseits aber auch bitter, weil es vorher 17 Jahre lang niemand lesen wollte. Die ursprünglche Reaktion auf mein Buch hat mich sehr enttäuscht und ich habe das bis heute nicht verwunden.
Sie haben damals schon laut gesagt, worüber jetzt alle schockiert tun, nämlich dass der Radsport durchgehend vom Doping verseucht ist.
Ganz genau und es macht mich sehr zornig, dass mein Buch damals nicht die Wirkung hatte, die ich mir davon versprochen hatte. Wenn die Leute damals auf mich gehört hätten, dann hätte es nie eine Operacion Puerto gegeben. Die Dinge lagen auf dem Tisch, der Aufräumprozess, der jetzt einsetzt, hätte schon damals stattfinden können. Aber es wollte niemand auf mich hören. Das Schlimmste ist, dass die Leute vom Radsportverband UCI nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es wäre an ihnen gewesen, schon damals etwas zu tun. Aber der langjährige Präsident der UCI, Hein Verbruggen, hat immer geleugnet, dass es ein Dopingproblem gibt. Und er ist immer noch Vize-Präsident. Der Mann ist eine Schande und eine Peinlichkeit. In den 90er Jahren sind zu Dutzenden Radfahrer wegen EPO-Mißbrauchs gestorben. Das hätte verhindert werden können.
Halten Sie Ihren Landsmann Pat McQuaid, den Nachfoler Verbruggens, für jemanden, der den Radsport in eine saubere Zukunft führen kann?
Pat McQuaid sagt in Irland seit Jahren bei jeder Gelegenheit, dass ich schlecht für den Radsport sei, weil ich das Nest beschmutze. Vor sechs Wochen hat er sich in Irland im Radio geweigert, mit mir zusammen in derselben Sendung aufzutreten. Er übernimmt keine Verantwortung für den Zustand des Radsports. Er sagt sogar laut und deutlich, dass es nicht seine Verantwortung ist, dass der Radsport jetzt da steht, wo er steht. Und er nennt immer noch Lance Armstrong einen großen Helden dieses Sports.
Trotzdem kommt ja seit der Operacion Puerto einiges in Gang. Was hat sich denn geändert, warum werden die Leute denn jetzt plötzlich wach, während sie damals geschlafen haben?
Der Hauptgrund ist, dass das Fernsehen und die Sponsoren sich auf einmal beschweren. Und das deprimiert mich auch. Es ändert sich nur etwas, wenn es an den Geldbeutel geht. Es geht alles nur um das Geschäft. Für den Sport interessiert sich niemand.
Es gab jetzt eine ganze Geständniswelle. Als Sie damals ausgepackt haben, blieben Sie jedoch alleine. Woran lag das?
Ich war ja nur ein mitelmässiger Fahrer, ein Wasserträger. Man konnte mich leicht abtun, als eine frustrierte, gescheiterte Existenz. Wenn damals Greg LeMond oder Stephen Roche ausgepackt hätten, so wie jetzt Bjarne Riis, dann wäre das etwas ganz anderes gewesen. Wenn etwa wie jetzt bei T-Mobile alle Helfer von Indurain ausgepackt hätten, dann wäre er auch unter Druck geraten, wie jetzt Riis, und es hätte sich vielleicht früher etwas geändert. Aber ich war damals der einzige.
Glauben Sie denn, dass der Radsport sich jetzt ändern wird?
Er ist kurz vor dem Zusammenbruch. Ein Teil der Teams geht einen neuen Weg, ein anderer Teil macht so weiter wie früher. Das Problem ist, dass noch immer zu viele Leute, die Teil des alten Systems waren, in verantwortlichen Positionen sitzen. Die müssten alle weg. McQuaid müsste weg. Verstehen Sie, Gänse stimmen nicht unbedingt gerne für Weihnachten.
Sie waren im vergangenen Jahr erstmals seit Ihrer Fahrerkarriere wieder bei der Tour dabei. Wie hat der Radsport auf Sie reagiert?
Ich werde immer noch wie ein Nestbeschmutzer behandelt. Man tut so, als sei ich das Problem, als sei ich der Böse. Das ist ein perverses Denken. Ich habe letztes Jahr den Engländer Bradley Wiggins interviewt. Danach hat ihn sein Sportlicher Leiter Ivan Madiot dafür zurecht gewiesen, dass er mit mir gesprochen hat. Und Madiot ist jemand, der behauptet, er stünde für die Reform im Radsport.
Wie stehen Sie dazu, dass viele Journalisten, die jahrelang die Dinge unter den Teppich gekehrt und die heroischen Fahrer bejubelt haben, sich jetzt als Kreuzritter gegen das Doping aufspielen?
Es macht mich ziemlich wütend. Ich kann nicht verstehen, wie man um die Kultur des Dopings wissen kann und das dann völlig ausblendet und über den Sport berichtet, als wäre nichts. Ich kann das jedenfalls nicht. Ich wurde letztens gebeten, meine Favoriten für diese Tour zu tippen. Ich konnte dazu nichts sagen, das interessiert mich nicht.
Aber es gibt immer noch genügend Fans, die das interessiert.
Ich mag Fans nicht besonders. Ich kann Fans nicht verstehen. Es ist ihnen egal, ob die Fahrer dopen oder nicht. Daraus kann ich nur schließen, dass ihnen der Sport egal ist, dass ihnen der Radsport nichts bedeutet. Ich liebe den Radsport bis heute, es ist ein wunderbarer Sport. Ich fahre selbst noch jedes Wochenende mit Freunden durch die Landschaft. Genau deshalb muss ich die Wahrheit sagen.
Tour-Direktor Christian Prudhomme redet viel über die Romantik der Tour de France und dass er sie retten will. Finden sie die Tour romantisch?
Erst mal muss ich lachen, wenn ich so etwas höre. Da sitzt jemand an der Spitze einer Organisation, die 130 Millionen umsetzt und faselt von Romantik. Ich erzähle Ihnen etwas von Romantik. Ich fand als Kind die Tour romantisch, ich wollte da unbedingt hin. Als Tom Simpson 1967 nach einer Überdosis Amphetaminen am Mont Ventoux starb, fand ich sogar das romantisch. Dass der Tod mitfuhr, steigerte für mich den Mythos der Tour sogar noch.. Heute finde ich das nur noch pervers. Wenn mein Sohn Radrennfahrer werden wollte, würde ich versuchen, das mit allen Mitteln zu verhindern. Ich bin Gott dankbar, dass er nicht so besessen ist, wie ich das war.
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