Wednesday, July 04, 2007

Zur Tour de France: Edler Held oder Lohnsklave – Die Schizophrenie des Radprofis.

Radsport ohne Doping hat es noch nie gegeben. Die Forderung nach einem sauberen Sport empfanden die Profis meist als Zumutung. Haben sie recht? Eine historische Betrachtung

(TOUR Nr. 7/2007)

Es waren erst zehn Tage vergangen, seitdem der Schock der Fuentes-Affäre jenes Rennen erbeben ließ, dem Jean Marie Leblanc sein Leben gewidmet hatte und das er nun zum letzten Mal begleitete. Doch jetzt strahlte die hochsommerliche Morgensonne über dem Tour-Village im Etappenort Tarbes und es kündigte sich eine heroische Schlacht um das Gelbe Trikot in den Pyrenäen an. „Es ist die spannendste Tour seit langem“, freute sich Leblanc, während er er an seinem Kaffee nippte und fügte an: „Wir vermissen die alten Helden nicht, wir haben jetzt neue.“

Für Leblanc war die Welt wieder in Ordnung. Die Tour de France und die Teams hatten, wie er glaubte, mit der Suspendierung der Verdächtigen in Strasbourg alles richtig gemacht. Jetzt war alles wieder gut und man konnte optimistisch nach vorne schauen. Die Bösewichter waren weg und unter der vermeintlich ehrlichen verbliebenen Mehrheit meinte Leblanc „ein Klima der Erleichterung“ zu verspüren. Das internationale Standing der Tour, so Leblanc, sei „so gut wie noch nie.“

Nach 16 Jahren als Tour-Direktor hätte Leblanc jedoch wissen müssen, dass sich die bösen Geister so einfach nicht verscheuchen lassen. Als ehemaliger Radprofi und späterer Journalist gehörte Leblanc 40 Jahre lang zur Radsportfamilie und wusste genau, wie tief die Strukturen im Radsport verankert sind, die Doping nicht nur ermöglichen, sondern ermutigen. Sogar den Generalangriff der französischen Behörden 1998 hatten diese Strukturen weitgehend unbeschadet überstanden. Wie sollte der Ausschluss von einem knappen Dutzend Fahrern da von heute auf morgen die Tour und den Sport runderneuern? Im Ernst konnte Leblanc das nicht glauben und so hoffte er vermutlich auch nur, dass das Thema erst einmal wieder aus der Öffentlichkeit verschwindet und der schöne Sport in den Vordergrund tritt. Ein frommer Wunsch, wie man jetzt weiß – spätestens der Fall Landis machte es unmöglich, sich je wieder hemmungslos der Schwärmerei für die Giganten der Landstrasse hinzugeben.

Mittlerweile muss man sich sehr ernsthaft fragen, ob der Radsport überhaupt reformierbar ist und ob er eine Zukunft hat. Denn selbst wenn es lobenswerte Initiativen einzelner Teams gibt, zeigt der Zank zwischen den verschiedenen Instanzen des Sports nur allzu deutlich, dass es einen entschlossenen Willen, sich vom Doping zu verabschieden, selbst im Angesicht des möglichen Untergangs der Sportart noch immer nicht gibt. So ist es für Aussenstehende nur schwer zu begreifen, warum etwa Ivan Basso schon wieder die Tour fährt und warum die Profimannschaften sich nicht dazu durchringen konnten, das Team Discovery zu ächten.

Der offensichtlichste Grund dafür, dass sich die Kultur des Dopings im Radsport und die Wiederstände gegen echte Reform so hartnäckig halten, ist, dass es Profiradsport ohne Doping noch nie gegeben hat. Die Geschichten des Gebrauchs von Kokain, Strychnin, Arsen und Nitroglycerin in den frühen Jahren der Tour fehlen in keiner Überlieferung jener Epoche. Ebenso ist man sich unter Historikern einig, dass bis weit in die 30er Jahre kaum jemand an diesem Usus Anstoss nahm. Die Zuschauer reichten den Fahrern auf offener Strasse Flaschen mit den berüchtigten „Vins Mariani“, einem Mix aus Wein und Koka, und Tour-Gründer Henri Degrange hatte gar nichts dagegen, dass ein Fahrer, wie er sagte, „sich vorübergehend künstlich stimuliert, wenn es nicht mehr anders geht.“

Dass Doping von Anbeginn an zum Radsport dazu gehörte, war das Ergebnis einer Kombination zweier Faktoren. Zum einen lag der Reiz von Radrennen schon immer darin, dass sie extreme Anforderungen an die Akteure stellten. Nur, weil die Leistungen der Fahrer unmenschlich und unvorstellbar waren, verkauften sich mit den Berichten ihrer Heldentaten in Paris Zeitungen. Zum anderen war der Radsport von Anfang an kein nobler Amateurismus sondern ein Berufssport, bei dem es um Existenzen ging. „Es war schon immer ein Sport für die Unterklasse, für Fabrikarbeiter und Bauern, für die das Leiden auf der Landstrasse noch immer besser war, als die Alternative“, sagt etwa der amerikanische Sportsoziologe und Dopingexperte John Hoberman. So waren zwischen 1903 und 1939 52 Prozent der Radprofis einfache Arbeiter – Mechaniker, Bauarbeiter, Bauern. 24 Prozent hatten kleine Geschäfte wie Lebensmittel- oder Fahrradläden und 19 Prozent waren Angestellte wie Verkäufer oder Taxifahrer. Akademiker und andere Bürgerliche gab es nicht.

Deshalb bezeichnet Hoberman das Doping im Radsport eindeutig als „Arbeitsplatzdoping“, vergleichbar mit dem Kaffee, der Zigarrette oder der Beruhigungstablette des Büroangestellten. Es ist der kleine Push, den der Lohnarbeiter der Landstrasse brauchte, um seinen Job erledigen zu können – einen Knochenjob, der ohne Hilfe gar nicht zu schaffen ist. Die Idee, dass der Sport bestimmte heere Ideale wie etwa Fairness verkörpern soll, die dem Doping widersprechen, war dem Radsport fremd. Solche Ansprüche waren ein Luxus des Adels und der Oberschicht, die Fochten oder Ruderten und die sich leisten konnten, die Zweckfreiheit ihres Tuns, also ihren Amateurstatus, zu pflegen und zu glorifizieren. Aus diesem Upper-Class Sport entstand die olympische Bewegung – eine romantische Welt, die, wie der holländische Sport-Soziologe Ruud Stokvis schreibt, „nichts mit dem schmuddeligen Professionalismus des westeuropäischen Radsports gemein hatte.“

Den Radsport an olympischen Maßstäben zu messen halten einige Sportwissenschaftler deshalb bis heute für verfehlt. „Richard Pound“, sagt etwa John Hoberman über den Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur, „ignoriert völlig, dass die Radsportler Lohnarbeiter sind. Er hält sie für Ritter, die nur dazu da sind, edle Werte zu vertreten.“ An den harten ökonomischen Realitäten der Radsportler hat sich jedoch seit den frühen Tagen nicht viel geändert. Der typische Radprofi hat, wie jüngst Greg Lemond bemerkte, die Schule abgebrochen und hat zuhause drei Kinder zu ernähren. Davon, ob er am entscheidenden Anstieg mithalten kann oder nicht hängt für ihn alles ab und er hat keine greifbare Alternative. Da sind Ideale Balast, der, wie die Trinkflasche, schnell im Strassengraben landet.

Ironischerweise haben sich die olympischen Sportarten, die einst vor allem nobel sein sollten, mittlerweile dem Modell Radsport angepasst. Amateurismus gibt es praktisch nicht mehr, seit IOC-Präsident Juan-Antonio Samaranch die Olympischen Spiele konsequent professionalisiert hat. Es geht jetzt auch im Rudern und im Fechten, im Schwimmen und in der Leichtathletik um Existenzen, im Tennis sowie schon lange. Die Werte und die Welt, die ein Richard Pound verkörpert, nennt John Hoberman deshalb einen „völligen Anachronismus.“

Der Radsport eckte allerdings zunächst nicht mit der olympischen Bewegung, mit den Sportverbänden und olympischen Kommittees an, sondern mit dem Staat. 1965 erließ das französische Parlament ein Gesetz, das den Gebrauch von Stimulanzien bei Sportveranstaltungen verbot. Hinter dem Gesetz, schreibt der amerikanische Sozial-Historiker Christopher Thompson in seinem Buch über die Tour de France, habe weniger die Sorge um die Integrität des Sports gesteckt, als vielmehr die Sorge um die Gesundheit der Sportler und ihrer jugendlichen Nachahmer. So war schon 1955, zwölf Jahre vor dem Tod von Tom Simpson, der Franzose Jean Mallejac am Mont Ventoux nach einer Amphetamin-Überdosis kollabiert. Der Tourarzt Dr. Pierre Dumas, der Mallejac widerbelebte, wurde danach zu einem feurigen Vorkämpfer für ein wirksames Anti-Dopingreglement und trug maßgeblich zur Entstehung des neuen Gesetzes bei.

So kam es 1966 zu den ersten Dopingtests bei der Tour. Die Reaktion unter den Fahrern war der von 1998 sehr ähnlich. Man war zutiefst pikiert. Das gesamte Fahrerfeld, allen voran Jacques Anquetil, schob am Start der nächten Etappe in Protest die Fahrräder über die ersten 100 Meter der Etappe. „Wir Pinkeln nicht in Reagenzgläser“ beschwerten sich die Profis über die vermeintliche Mißachtung ihrer Menschenwürde, sowie die Bedrohung ihrer freien Berufsausübung.

Es war das erste Mal, dass die Radsportfamilie, von Aussen unter Druck geraten, deutlich ihr Gesicht zeigte. Wie auch 1998 protestierten die Fahrer dagegen, dass ihnen unangenehme Fragen gestellt werden. Der Radsport funktioniert gemäß seinen eigenen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen und er weigert sich beharrlich, dass ihm fremde Regeln und Wertmaßstäbe aufgepfropft werden - seien es die olympischen Werte oder die, in den Augen vieler Radsportler absurde, Forderung „gesund“ zu sein, wie sie in dem französischen Gesetz von 1965 zum Ausdruck kam.

Eine Tour de France ist nun einmal nicht gesund. „Wenn man an der Tour teilnimmt, lässt man sich auf ihre internen Regeln mit allen ihren Konsequenzen ein“, sagte nach dem Streik von 1966 Gaston Plaud, der Sportliche Leiter bei Peugeot. „Wenn man diese nicht tragen will, dann muss man zuhause bleiben.“ Die Radfahrer, wollte Plaud zum Ausdruck bringen, wissen was sie tun, sie gehen bewusst ein Risiko ein, wenn sie sich für diesen Beruf entscheiden. Seine Worte erhielten im Nachhinein einen besonders finsteren Klang, denn Peugeot war die Mannschaft, in deren Trikot Tom Simpson ein Jahr später am Mont Ventoux starb.

Der belgische Arzt Georges Mouthon, der 2002 wegen Dopings verurteilt wurde und der sich mittlerwiele aus dem Radsport zurück gezogen hat, brachte 2006 in einem Gespräch mit TOUR die Binnenethik des Radsports im Hinblick auf das Gesundheitsargument auf den Punkt. Wie Plaud hält Mouthon den Radsport für einen Job, der eben vom Prinzip her gefährlich und riskant ist. Für Mouthon wie für Plaud ist der Sport an sich das Gesundheitsrisiko und nicht das Doping: „Die Belastungen einer Tour de France sind ohne medizinische Hilfe nicht zu überstehen. Amoralisch ist es für mich nicht, den Fahrern zu helfen, diese Belastungen auszuhalten. Amoralisch wäre es, ihnen nicht dabei zu helfen.“ So wie er jedem Manager oder Piloten oder Chirugen helfen würde, die Belastungen seines Berufes auszuhalten, fordert Mouthon das Recht, dem Radsportler pharmakologisch helfen zu dürfen.

Doping im Radsport ist eben, wie John Hoberman sagt, ganz normales Arbeitsplatzdoping. Dass sich die Radsportler als Arbeiter verstehen, führt Hoberman weiterhin aus, zeige sich schon alleine daran, dass ihre Proteste 1965 und auch 1998 die Form von Streiks annahmen. Am ehesten erinnert Hoberman die Solidarität unter den Radsportlern deshalb an eine Gewerkschaft. Was allerdings nicht in dieses Bild passt, ist die Tatsache, dass die Radprofis nie gegen die Härte der Rennen und des Rennkalenders protestieren, die sie ja zum Doping zwingen. Sie gehen nur dann auf die Barrikaden, wenn sie von Behörden, Kontrolleuren und moralisierenden Journalisten belästigt werden. Jan Ullrichs giftige Ausfälle bei seiner Rücktritts-Show, sein offensichtliches Empfinden, dass ihm Unrecht getan wird, ist dafür das beste Beispiel.

Den Grund, warum die Radsportler die Härte der Rennen akzeptieren und nicht dagegen,
sondern stattdessen für ihr Recht, ungestört zu dopen, protestieren, nennt der dänische Journalist Verner Moeller in seinem Doping-Buch von 1999. Die Sportler, so Moeller, verstehen, dass die Faszination der Tour nicht zuletzt auf dem Leiden der Protagonisten beruht. Daran ergötzen sich die Fans und die Journalisten lieben die Geschichten von Männern, die durch die Hölle gehen. „Die Tour soll nicht einfach sein“, entgegnete T-Mobile Fahrer Michael Rogers 2006 trocken auf die Frage, ob nicht die Länge der Etappen und der Mangel an Ruhetagen zum Doping verführe. Die Fahrer verstehen, dass die heroische Inszenierung von unmenschlichen Anstrengungen ihre Existenzgrundlage bildet.

Diese Forderung der Fans nach dem Spektakel des Schmerzes widerspricht freilich diametral der Forderung sauber und gesund und vorbildlich zu sein. Die Profis sind einerseits dazu gezwungen, sich unmenschlich zu schinden, um im nächsten Jahr noch einen Vertrag zu bekommen und ihre Familie ernähren zu können und sollen andererseits dabei fair und ritterlich bleiben.Vereinfacht gesagt, ist ihre Reaktion auf diese Widersprüche: „Wir bieten Euch, was Ihr wollt, aber fragt uns bitte nicht danach, wie wir das tun.“


So lebt der Radsport ständig in einem Zustand der Schizophrenie. Er hat ein internes Regelwerk, eine interne Moral, die sich von dem, was nach Aussen getragen wird, fundamental unterscheidet. „Man teilt einen gewissen Ehrenkodex, der noch dadurch verstärkt wird, dass man gemeinsam allgemein akzeptierte Regeln, wie das Dopingreglement, durchbricht. Dadurch bricht der Radsport mit dem Rest der Gesellschaft und verschließt sich in sich selbst“, schreibt John Hoberman. Die offenkundigste Parallele zu einer solchen sozialen Struktur ist, laut Hoberman, die Mafia – eine Gemeinschaft mit einem starken internen Ehrenkodex, die gemeinsam die Regeln und Gesetze der restlichen Gesellschaft übertritt und darüber schweigt.

Der irische Radprofi Paul Kimmage hat in seinen Memoiren beschrieben, wie er in diese verschworene Radsport-Gemeinschaft und in ihr Dopingsystem hinein gezogen wurde. Die gemeinsam durchlittenen Härten des Sports, das gemeinsame, zehn Monate währende Tingeln schweißt zusammen und schafft ein Band der Solidarität, das stärker ist, als alle anderen Bindung und Verpflichtungen. „Der Mann, der im Bett neben Dir liegt, der die gleiche harte Etappe wie Du gefahren ist und der wie Du keine warme Dusche im Hotel vorgefunden hat, ist Dir näher, als irgendwer sonst auf der Welt“, sagt Kimmage. Alle Aussenstehenden werden als Leute gesehen, die einfach nicht verstehen, was es bedeutet Radprofi zu sein. Vermutlich stimmt das sogar.

Paul Kimmage sagt, dass es ihn Jahre gekostet hat, Abstand zu gewinnen und diese Gemeinschaft von Aussen betrachten zu können. Diejenigen, die nach ihrer Karriere im Radsport bleiben, lernen es oft nie, sich durch die Augen der restlichen Welt zu sehen und die internen Regeln und Gesetze zu hinterfragen. Deshalb hat Kimmage auch wenig Hoffnung, dass sich die ehrenwerte Radsportgesellschaft je öffnet – auch nicht unter dem Druck der Fuentes-Affäre. Die Träger der Radsport-Privatmoral, so Kimmage, seien dieselben wie schon immer. „Die meisten sportlichen Leiter sind ehemalige Rennfahrer, die meisten Pfleger waren bei ihren Vorgängern in der Lehre, alles ist beim Alten.“ Am deutlichsten, so Kimmage, sei ihm die Unreformierbarkeit des Radsports geworden, als er im vergangenen Jahr als Journalist bei der Tour war. „Ich werde bis heute als Feind des Sports behandelt, weil ich ausgepackt habe. Roger Millar, ein überführter Dopingsünder, ist hingegen mit offenen Armen und viel Schulterklopfen bei der Rückkehr nach seiner Sperre begrüßt worden. Das sagt eigentlich Alles. Ich bin zutiefst pessimistisch.“

Der hölländische Wissenschaftler Ruud Stokvis ist hingegen überhaupt nicht pessimistisch, obwohl auch er nicht an eine Reformierbarkeit des Radsports glaubt. Er sieht das Problem nicht bei den Sportlern, sondern in der gesellschaftlichen Doppelmoral. „Der Spitzensport“, so Stokvis, „legitimiert sich gegenüber der Gesellschaft dadurch, dass er gesund ist und dass die Athleten Vorblider für die Jugend sind.“ Diese Rechtfertigung dafür, Leistungssport zu betreiben, zu organisieren und zu fördern, hält Stokvis jedoch für realitätsfern. „Vielleicht sollten wir offiziell anerkennen, wozu Radrennen wirklich gut sind, nämlich, viele Menschen zusammen zu bringen.“ Darin ist die Tour in der Tat wesentlich erfolgreicher und glaubwürdiger als bei dem Versuch, ein Hort der Gesindheit, der Tugend und der Moral zu sein. Das Dopingproblem würde unter derart veränderten Vorzeichen zu einem Randproblem – es ginge nur noch darum, Auswüchse zu verhindern und schwere gesundheitliche Risiken zu vermeiden. Und vielleicht würden die Fahrer und Mannschaften dann sogar bereitwillig kooperieren.
Sebastian Moll