Tuesday, July 10, 2007

Die Tour in Belgien: Volkskrankheit Radsport


Es muss für die Tour de France Fahrer ein kleiner Schock gewesen sein, als sie sich am Montag früh nach zwei Tagen in England auf belgischen Strassen wiederfanden. So nett war es auf der Insel gewesen, in London hatten eine Million Fans sie neugierig beäugt und höflich beklatscht, ansonsten aber die sprichwörtliche britische Distanz gewahrt. In Dünkirchen hingegen krochen die wilden flämischen Fans beinahe in die Mannschaftsbusse hinein, hatten am Morgen schon Bierfahnen, trugen wilde Hüte und Bemalungen und schwenkten unter lautem Gegröle ihre allgegenwärtigen flandrischen Fahnen. Ihre Sympathien und Antipathien für und gegen bestimmte Fahrer taten sie lauthals kund und trugen sie sichtbar auf Transparenten vor sich her.

Belgien ist eine leidenschaftliche Radsportnation wie kaum eine andere. Das Radeln macht dem Fussball von der Popularität her starke Konkurrenz, es vergeht kein Tag, an dem nicht fünf Zeitungsseiten mit Radsportberichten gefüllt sind. Die Flandern-Rundfahrt, der belgischen Rad-Klassiker im April ist ein Nationalfeiertag und zu jedem Kirmesrennen kommen die Leute zu Tausenden an die Strecke. In jedem Dorf steht ein „Supporter Café“ eine jener berüchtigten Fan Kneipen, die oft einem einzigen Fahrer oder einem Team gewidmet sind und in denen sich alles um den Radsport dreht.

Zugleich wird kein anderes Radsportland so eng mit der Kultur des systematischen, hemmungslosen Dopings in Verbindung gebracht, wie Belgien. Der „Pot Belge“ ist im Radsport sprichwörtlich – ein teuflisches Gemisch aus Heroin, Kokain, Analgetika und Amphetaminen, der den Fahrern über lange Jahre von ihren zumeist belgischen Pflegern gereicht wurde, um die Renn-Strapazen besser auszuhalten. Und bis auf den derzeitigen Superstar Tom Boonen gibt es kaum einen belgischen Spitzen-Fahrer, der nicht zumindest einmal schon unter massivem Dopingverdacht stand.

Der große Eddy Merckx etwa war bereits vor dem ersten seiner fünf Tour de France Siege mit Amphetaminen im Blut aufgefallen. Der größte Eintages-Fahrer der 90er Jahre, Johan Museeuw gab in diesem Frühjahr zu, von dem (belgischen) Tierarzt Jose Landuyt über Jahre die Mittel Aranesp und EPO bekommen zu haben. Und dann ist da die traurige Geschichte von Frank Vandenbroucke, dem nach Expertenmeinung größten Talent des belgischen Radsports in den vergangenen Jahren, das nach mehreren Verhaftungen wegen Besitzes von Dopingmitteln einen Selbstmordversuch begang und in der Psychatrie landete.

Die Liste der Belgier, die mit Doping im Radsport in Verbindung gebracht werden, lässt sich beinahe beliebig fortsetzen. Da ist Willy Voet, der Pfleger des Teams Festina, der 1998 jenen Skandal in Gang setzte, der die Tour ins Wanken brachte. Voet hatte in seinem Kofferraum bei der Einreise nach Frankreich, absurde Mengen von EPO für seine Mannschaft verstaut; da ist weiter der T-Mobile Masseur Jef d’Hont, der mit seinen Memoiren die Geständniswelle in einstigen deutschen Vorzeigeteam auslöste; da ist der Team-Leiter der belgischen Mannschaft Quick Step, Patrick Lefevere, der Museeuw und Vandenbroucke betreute, als Fahrer zugegebenerweise selbst gedopt hat und den T-Mobile Manager Bill Stapleton gerade erst als „Vertreter des alten Denkens“ bezeichnete; und da ist der Ex-Rennfahrer Rudy Pevenage, der Vertraute, Trainer und Berater von Jan Ullrich, der nachweislich regen SMS-Verkehr mit Eufemaiano Fuentes pflegte.

Trotz dieser eindrucksvollen Liste belgischer Doper und Dopinghelfer glaubt jedoch Marc Gheyselink, ein altgedienter belgischer Radsportreporter für die Zeitung Het Laatste Niewus nicht an eine besondere belgische Neigung zum Betrug und zur Selbstmedikation. „Es ist einfach so, dass wir ein Land mit einer tief verwurzelten Radsporttradition sind“, sagt Gheyselink. „Und wo es viel Radsport gibt, gibt es eben viel Doping.“

Weil der Radsport in Belgien aber eine so lange Tradition hat, so Gheyselink weiter, tut er sich besonders schwer damit, die alte Mentalität des Dopens und Schweigens abzuschüttelten. Die Positionen in den Mannschaften vom Direktor bis zum Masseur sind durchweg mit ehemaligen Rennfahrern besetzt, die wiederrum Söhne von Pflegern und ehemaligen Rennfahrern sind und die das Doping-Wissen und die -Praktiken sowie die Radsport-interne Privatmoral von Generation zu Generation weitergeben. „Wenn wir als Journalisten heute kritische Fragen stellen“, berichtet Gheyselink, „dann werden wir immer noch angegriffen. Johan Bruyneel (der belgische Ex-Rennfahrer und Chef der Lance Armstrong Mannschaft Discovery) hat beispielsweise erst letztens zu mir gesagt, ich würden in die eigene Suppe spucken und an dem Ast auf dem wir alle sitzen, sägen.“ Aber immerhin scheint sich das belgische System zumindest von der Seite der vorher bloß devoten Presse lanfsam zu ändern. Gheyselinks Zeitung berichtet von der Tour zumindest zur Hälfte ausschließlich über Dopingthemen. Es ist ein zarter Anfang, an zutiefst verkrusteten Strukuturen zu nagen.

Sebastian Moll