Saturday, July 14, 2007

Linus Gerdemann will kein neuer Ullrich sein

Das Bild rief Erinnerungen wach, die der treue Radsportfan in den letzten Monaten tief in der Mottenkiste seines Unterbewusstseins vergraben hatte. Ein blutjunger Deutscher gewinnt die erste große Bergetappe der Tour und stürmt ins Gelbe Trikot. Das gab es zuletzt vor beinahe genau zehn Jahren. Damals hieß der 23-jährige Fahrer, der allen davon fuhr, Jan Ullrich. Gestern war es der 24 Jahre junge Münsteraner Linus Gerdemann, dem am Anstieg zum Col de la Colombiere keiner mehr folgen konnte.

Wenn man Linus Gerdemann als Erben von Jan Ullrich bezeichnen würde, würde ihm dies allerdings überhaupt nicht gut gefallen. Gerdemann möchte nicht für Kontinuität stehen, sondern für Diskontinuität. Er will der Schlusspunkt hinter all dem sein, was man heute mit der Ära Ullrich assoziiert und das Anführungszeichen zu dem, was folgen mag. „Ich will mit meiner Mannschaft für den neuen Radsport stehen“, schluchzte der überwältigte junge Mann in die Mirkofone der Reporter, noch bevor er sich den verkrusteten Schweiß aus dem Gesicht wischen konnte.

Man möchte es dem sympathischen Schlacks mit den langen blonden Haaren und den großen blauen Augen gerne glauben, dass er der Musterknabe eines ehrlichen Radsports ist, dem man wieder ungehemmt seine Begeisterung schenken kann. Doch nach den Enttäuschungen der Vergangenheit ist man mit der Verteilung von Zuneigung an Radsportler zur Vorsicht angehalten.

Sicher, Linus Gerdemann gehört zu den Hoffnungsträgern des umgekrempelten T-Mobile Teams, das keine Anstrengung scheut, verspieltes Vertrauen wieder zu gewinnen. Er unterliegt der freiwilligen Selbstkontrolle der Mannschaft, die den Sponsor vor Dopingfällen so wasserdicht schützt, wie das nur irgend geht. Anders als viele Fahrer seiner Vorgängergeneration bei T-Mobile ist er offen und zugänglich. Ohne zu zögern hat er, als die Teamleitung dies forderte, die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen italienischen Sportmediziner Luigi Cecchini aufgegeben. Und doch ist Linus Gerdemann auch Produkt eines Milieus, die systematischen Doping jahrzehntelang trug.

Entdeckt hat Linus Gerdemann sein älterer Kollege Jens Voigt. Voigt war so beeindruckt von Gerdemann, dass er den 22-Jährigen 2005 seinem Sportdirektor Bjarne Riis bei einem Probetraining vorführte. Riis war sich mit Voigt schon nach wenigen Pedaltritten einig: „Das ist das größte Talent im Radsport seit Jan Ullrich“, sagte er und zog ohne Vertun einen Vertrag für den Münsteraner aus der Schublade. Riis wusste wovon er sprach, er war schließlich schon Hebamme zu Ullrichs Laufbahn gewesen.

Ein Jahr später wechselte Gerdemann allerdings schon zu T-Mobile, wo damals noch Ullrich selbst als Kapitän fungierte. Der ehrgeizige Gerdemann kalkulierte bei seinem Wechsel scharf. Im deutschen Rennstall würde Gerdemann, der nie einen Hehl daraus machte, dass er „ganz nach oben“ will, schneller zum Zug kommen, als bei CSC hinter Ivan Basso.

Dass das jetzt alles so schnell geht, überrascht Gerdemann sicherlich selbst. Doch bei aller Fassungslosigkeit über seinen Sieg vom Samstag übernahm er doch verblüffend mühelos die Rolle des Vertreters gleich des gesamten Radsports der Zukunft. „Ich danke allen, die in diesen schwierigen Zeiten noch zusehen“, verkündete er staatsmännisch. „Und ich wünsche mir, dass es mit dem Radsport weiter geht.“ Das wünscht man sich auch und gewiß wäre Gerdemann ein liebenswertes Gesicht eines neuen Sports. Doch Gerdemann muss es dem gebeutelten Zuschauer nachsehen, dass er erst noch ein wenig abwartet, bevor er in neuerliche Euphorie verfällt.