Monday, July 16, 2007

Tod in den Alpen - Die Grenzen des Wahnsinns Tour de France

Die Route Departmental 902 von Bourg St. Maurice nach Val d’Isere ist eine Traumstrasse für Frankreich-Urlauber. Grünblaue Bergseen, ewig-weisse Gletscher und urige savoyardische Bauerndörfer bilden über 60 Kilometer die beinahe schon kitschige Kulisse rechts und links der Strecke. Wenn die Tour de France hier durch kommt, verwandelt sich das Postkartenpanorama jedoch in ein infernalisches Panoptikum. Schon Stunden bevor die 180 Rennfahrer durchkommen sind das Asphaltband und die Berghänge an seinem Rand dann schwarz vor Menschen. Hupende LKWs mit Zeitmeß- und Fernsehübertragungstechnk versuchen sich durchzudrängeln, entnervte Reporter mit akuter Redaktionsschluss-Panik liefern sich auf jedem freien Meter Asphalt ein Autorennen zur Internetverbindung am Zielstrich. Hobbyradler schlängeln sich in Pulks zwischen dicht geparkten Campingwagen den Berg hinauf, angetrunkene Fans sitzen auf Klappstühlen am Rand und ergötzen sich johlend an dem bizarren Chaos.

Eigentlich müsste es jeden Tag hier zu schweren Unfällen kommen. Die Tatsache, dass sich nur alle paar Jahre während der drei Tour -Wochen eine Tragödie ereignet, grenzt an ein Wunder. 2004 starb ein Kind unter den Rädern des Haribo-Wagens in der Werbekarawane, seitdem wurden schlimmstenfalls Blechschäden aktenkundig. In diesem Jahr kam es jedoch wieder zum Unvermeidlichen. Nach der Sonntagsetappe von Bourg en Bresse nach Tignes rollte der deutsche Radprofi Patrick Sinkewitz auf seinem Rennrad von der Ziellinie auf der Passhöhe oberhalb von Val D’Isere den Berg hinunter zu seinem Hotel, als ein 71 Jahre alter Zuschauer hinter einer Kurve unvermittelt über die Strasse sprang. Sinkewitz prallte mit Tempo 70 ungebremst auf den betagten Sportliebhaber, die beiden blieben blutend und bewusstlos auf der Strasse liegen.

Bis jetzt ist der Luxemburger Radsport-Freund im Krankenhaus von Grenoble noch nicht wieder aus dem Koma erwacht, sein Zustand wird als kritisch beschrieben. Sinkewitz kam hingegen mit einer Gehirnerschütterung und Fleischwunden rund um den Mund davon. T-Mobile Mannschaftschef Bob Stapleton, der Sinkewitz noch am Abend im Hospital von Albertville besuchte, freute sich darüber, dass sich der 26 Jahre alte Hesse schon Stunden nach dem Zwischenfall wieder für den Ausgang des Rennens und die Position seiner Mannschaftskameraden in der Tour-Gesamtwertung interessierte. Selbstverständlich, fügte der höfliche Amerikaner an, bedauere man auch zutiefst, was mit dem Fan passiert sei und man werde sich auch um seine Familie kümmern. Doch bei aller Betroffenheit wisse man nicht so recht, wie das hätte vermieden werden können. „Es ist doch gerade das Schöne an der Tour de France, dass sie in einer wunderbaren Naturkulisse stattfindet und dass der Zugang nicht beschränkt ist.“ Wenn man diese Prämissen akzeptiere, so Stapleton, dann könne man derartige Risiken kaum ausschließen.

Etwas hätte man jedoch vielleicht schon tun können. Viele andere Mannschaften waren mit ihren Bussen bis zur Ziellinie auf der Passhöhe gefahren. Die Fahrer stiegen nach dem Rennen ein und warteten brav, bis sich der Stau auf der D902 ein wenig aufgelöst hatte, um in ihr Hotel chauffiert zu werden. Doch Rolf Aldag, selbst Ex-Rennfahrer und Sportlicher Leiter bei T-Mobile, verübelte es seinen Fahrern nicht, dass sie per Rad den schnelleren Weg zu einer Dusche, einer Massage und einem ausgiebigen Essen gewählt hatten. „Das dauert doch ansonsten drei Stunden.“ Und drei Stunden hat bei der Tour zwischen dem Rennen, den Medienterminen und der notwendigen Regeneration kein Rennfahrer zu verschenken.

Man kann solche Zwischenfälle eben letztlich nicht vermeiden. Das Monstrum Tour de France ist schlicht am Limit. Die Tour-Planer hatten gewiss nicht geahnt, was aus ihrem Event einmal wird, als sie vor beinahe hundert Jahren die Radler erstmals ins Hochgebirge jagten, um das Drama und somit die Breitenwirkung des Spektakels zu erhöhen. Die Details einer modernen Sportgroßveranstaltung mit ihrer ganzen aufwändigen Logistik zwischen an sich unwirtlichen 3000er Gletschern hatten sie sich jedenfalls bestimmt nicht ausgemalt. Selten wird so klar, wie pervers die Verwandlung der Natur in einen Massenvergnügungspark ist, wie am Tour-Tag in den Alpen.

Für solch hintergründige Gedanken über die Auswüschse der Spektakelgesellschaft hatte man am ersten Ruhetag der Tour beim Team T-Mobile unterdessen nur wenig Sinn. Rolf Aldag und Bob Stapleton, das Duo, dass die Mannschaft in die Ära nach Jan Ullrich führen soll, machte sich in seiner modernen, pseudo-alpinen Skifahrerherberge in Val d’Isere viel mehr Sorgen darum, welche Auswirkungen der Schock des Unfalls wohl auf die jungen Athleten haben würde, die am Dienstag wieder in den Sattel steigen mussten. Zumal am Sonntag auch noch der designierte Kapitän der Mannschaft, der Australier Michael Rogers gestürzt war und sich das Schlüsselbein gebrochen hatte. Viel Pech an einem einzigen Tag für eine Formation, die bei dieser Tour um einen hoffnungsvollen Neubeginn nach den Ullrich-Jahren und der Doping-Ära ringt.

Wenn man Aldag und Stapleton am Montag glauben durfte, war diese erste Krise jedoch ein gelungener Test für die reformierte Mannschaftsstruktur. Man habe sich im Team ständig über den Zustand von Sinkewitz ausgetauscht, habe sich gemeinsam gesorgt und gemeinsam gefreut, nachdem sich sein Zustand als weniger bedrohlich heraus gestellt hatte, als befürchtet. Von Einzelgängertum und Heimlichtuerei, wie zu Ullrich-Zeiten in der Mannschaft üblich, keine Spur. Insofern sei das junge Team nun zwar personell geschwächt, moralisch jedoch gestärkt. Die restlichen sechs Mann sind wieder gerüstet dafür, sich am Dienstag zwischen dicht gedrängten, angetrunkenen Fans, die sie angrölen und mit diversen Flüssigkeiten bespritzen, über den 2770 Meter hohen Iseran und den 2645 Meter hohen Galibier zu quälen und dabei in der Hochsommerhitze bis zum Umfallen um das Gelbe Trikot zu fighten. The show must go on.