Friday, June 09, 2006

Lernen für den Staatstest - Bildungspolitik unter Bush

“Ich mag’ Geschichte ohnehin nicht besonders”, tröstet sich Ruben Jimenez, ein Siebtklässler von der King Junior High School im kalifornischen Sacramento. Eine Liebe zu dieser Disziplin würden den Sohn eines mexikanischen Bauarbeiters ja auch nur unglücklich machen. Denn für Ruben gibt es nur drei Fächer: Morgens drei Stunden Englisch, Nachmittags zwei Stunden Mathematik. Und bevor er dann nach Hause geht, noch ein Stunde Sport.

Ein Unterrichtsplan wie der von Ruben kommt in den vergangenen drei Jahren an öffentlichen amerikanischen Schulen immer häufiger vor. Seit das Bildungsprogramm der Bush-Regierung den Fortschritt der Kinder von der ersten bis zur achten Klasse im Lesen und Rechnen jährlich überprüft und die Förderung der jeweiligen Schule davon abhängig macht, konzentrieren sich immer mehr Einrichtungen auf das Wesentliche. Laut einer Untersuchung des Zentrums für Bildungspolitik (Center on Educational Policy) haben 71% der 15,000 amerikanischen Schulbezirke Fächer wie Geschichte, Musik und Kunst radikal zusammen gestrichen. An der King Junior High School etwa lernen 150 der 885 Schüler nichts anderes mehr als Mathematik und Englisch.

Um endlich mit dem Notstand im öffentlichen Bildungssystem Amerikas aufräumen, zieht George Bush seit 2002 jede einzelne Schule für ihre Leistung zur Verantwortungt. Ein Prinzip, an dem auch der poltische Gegner der Republikaner, die demokratische Partei, wenig auszusetzen hat. Den Gedanken, dass Schulen und Lehrer Rechenschaft schuldig sein sollten, hatte schließlich schon Präsident Clinton formuliert. Kritisiert wurde bislang an Bushs Bildungsprogramm „No Child Left Behind“ – „kein Kind wird zurück gelassen“ – lediglich die Art und Weise, wie es umgesetzt wird. Das Programm, so die am häufigsten geäußerte Kritik, bestrafe Verfehlungen, schaffe aber keine Abhilfe. Bush tue nicht genug dafür, den Lernfortschritt, den er fordert, auch zu gewährleisten, indem er etwa mehr Geld für Lehrer und für Nachhilfeunterreicht ausgibt.

Die nun eingetretene Reduzierung der Lehrpläne auf Lesen und Rechnen hatte indes kaum jemand voraus gesehen. Die Schulen haben ihre Lehrpläne ganz pragmatisch den Tests der staatlichen Qualitätskontrolle angepasst: „Sie verfahren nach dem Prinzip – warum soll ich etwas unterrichten, das nicht getestet wird“, sagt William Reese, Autor einer Studie über das öffentliche Bildungssystem in den USA.

Die Bundesregierung weist unterdessen die Verantwortung für die Minimalisierung der Schulbildung von sich. Lesen und Rechnen seien zwar die einzigen Fächer, an denen sie die Effektivität einzelner Schulen ablesen. „Wir schreiben aber niemandem ein Kurrikulum vor“, sagt Chad Colby, Sprecher des Bildungsministeriums.

Kritiker wie der Vorsitzende der Bildungskommission der Bundesstaaten, Mike Huckabee, sehen hingegen hinter der Bewertungspraxis der Schulen durch die Behörden eine bedenkliche Verflachung des Bildungsbegriffs: „Wir lassen einige unserer talentiertesten Schüler zurück, indem wir ihre Talente zu singen, zu malen, zu tanzen oder ein Instrument zu spielen, brach liegen lassen. Dabei ist doch Kreativität genau das, was in der Wirtschaft heute gefordert wird.“ Thomas Sobol, Pädagogikprofessor an der Columbia University sieht das ähnlich: „Nur zwei Fächer? Was für ein Trauerspiel. Das ist wie ein Geiger, der immer nur Tonleitern übt, aber nie spielen darf. Der verliert doch seine Liebe zur Musik.“

Befürworter des Programms hingegen glauben, dass es ohne Übungen keine Musik geben kann: „Wenn man nur eine bestimmte Anzahl an Stunden zur Verfügung hat und ein schwer wiegendes Defizit in einem bestimmten Gebiet, muss man sich eben darauf konzentrieren“, sagt Harry Lind, Rektor einer Schule in Cuero, Texas. Wer nicht lesen kann, kann auch nicht Geschichte lernen, wer nicht rechnen kann, kann keine Physikexperimente machen, so der Gedanke. Lesen und Rechnen sind gemäß dieser Bildungsauffassung keine Fächer wie andere, sondern Grundtechniken, an denen man nicht vorbei kommt. Und so ist die eigentliche Frage im Streit um „No Child Left Behind“, ob eine solche Auffassung von Bildung noch zeitgemäß ist. Oder ob man in Zukunft als Amerikaner vielleicht auch ohne richtig lesen und rechnen zu können als gebildet gelten kann.

Sebastian Moll