Friday, May 26, 2006

Die Neighborhood Bar - Ersatzfamilie für den New Yorker Individualisten

Es ist schwer in New York, noch Inseln des Ungeschminkten zu finden, doch es gibt sie. Orte, wo nicht das Design regiert, wo weder Dinge noch Menschen etwas darstellen müssen und Teil einer großangelegten Strategie der(Selbst-) Vermarktung sind. Und auch wenn es nach Udo Jürgens klingt - sie sind kostbar diese Oasen, in denen man sich so geben darf, wie man sich gerade fühlt und wo einen die Mitmenschen von aufdringlichen Selbstdarstellungen verschonen.

Diese Orte haben meist die Form von Bars eines bestimmten Typs an. Man nennt sie „Neighborhood Bars“ oder schlicht „Dives“. Von Aussen wirbt gewöhnlich nichts für diese Etablissement, als Neonreklamen für Bier- und Whiskeysorten im Fenster. Wenn sie Namen haben, dann keine, die irgendwelche abstrusen Assoziationen wecken sollen wie etwa das „Cafe Luxembourg“ oder der „Tiki Room“. Die Dives heissen schlicht „Tina’s Beer and Scotch Place“ oder „Grassroots Tavern“ und schmeißen sich keinem Passanten an den Hals. Hier treten ausschließlich Stammgäste aus dem Viertel und deren Freunde über die Schwelle. Erlebnisgastronomie ist anderswo.

Die Einrichtung ist standardmässig vergammelt. Im dunklen, niedrigen Raum stehen ein paar wackelige Holztische und Stühle, der Boden und die Theke sind von jahrzehntelangem Bierüberguss moderig. Hinter der Theke läuft immer ein Fernseher mit Sportübertragungen, in der Ecke steht eine Juke-Box. Der Barkeeper begrüsst einen mit Handschlag, macht einen kurzen Spruch, stellt einem das Getränk der Wahl hin und lässt einen ansonsten in Ruhe.

Niemand hetzt einen hier. Man kann in Gedanken versunken stundenlang an einem Bier nippen oder sich mit den anderen Stammgästen unterhalten. Man kann dem Baseballspiel folgen und sich mit Sportfachgesimpel unterhalten. Einige lesen Zeitung, in der Ecke bespricht ein Pärchen seine Beziehungsprobleme. Der Banker, der von der Arbeit kommt und dem der Schlips noch offen um den Hals baumelt. stöst mit seinem Nachbarn an, der riesige Ohrringe, Tattoos und eine Lederjacke trägt.

Die „Neighborhood Bar“ ist das Wohnzimmer der New Yorker, das in den viel zu kleinen Apartments fehlt. Hier findet man zu jeder Tages- und Nachtzeit Zuflucht, einen Drink und ein Schwätzchen – eine kleine Ersatzfamilie für den militant individualistischen Großstädter.

Doch wie allem, was warm und wahr ist, geht es den Dives in New York zunehmend an den Kragen. Meine Lieblingsbar an der Hudson Street musste kürzlich einer Boutique weichen. Die alten Stammgäste halten jetzt per email Kontakt und sind jeden Mittwochabend in einer anderen Bar in einem anderen Viertel zu Gast. Das funktioniert ganz gut. Fragt sich nur wie lange noch.