Saturday, April 29, 2006

Das Empire State Building wird 75

John McCormick hat einen Klos im Hals. Der kleine Mann mit der Baseballmütze starrt gebannt durch den Maschendraht, der die Aussichtsterrasse im 86. Stock des Empire State Building sichert. 320 Meter unter ihm hasten ameisenkleine Gestalten sowie Autos im Spielzeugformat durch die Strassen. In alle Himmelsrichtungen wälzt sich steinern und stählern und mächtig die Stadtlandschaft New Yorks bis zum Horizont. „Der Blick von hier oben ist eines der ganz großen amerikanischen Erlebnisse“, sagt John feierlich und spürbar ergriffen.

John ist gerade erst aus seiner Heimatstadt Boston angekommen. Zusammen mit seiner Frau Ellie ist er vom Flughafen aus direkt hierher geeilt. Zwei Stunden lang sind sie an den Aufzügen Schlange gestanden, bis sie endlich auf der Terrasse waren, aber das haben sie geduldig in Kauf genommen. Denn einmal hier oben zu stehen, war für sie ein Lebenstraum.

John und Ellie sind zwei von etwa 3,5 Millionen Besuchern aus der ganzen Welt, die jedes Jahr die Ausichtsterrasse des Empire State bevölkern. Der Wolkenkratzer ist auch genau 75 Jahre nach seiner Einweihung am 1. Mai 1931 noch immer die Attraktion Nummer Eins in New York. Und so war er auch geplant. Das Empire State Building war von Anfang an als Sensation gedacht: Die Architekten hängten in die mit Marmor ausgekleidete Art-Deco Eingangshalle ein Wandbild ihres Werkes neben Gemälden der klassischen sieben Weltwunder: Das Empire State, das wollten sie von Anfang an klar stellen, gehört in eine Reihe mit den Pyramiden von Gizeh und dem Koloss von Rhodos.

Das Empire State wurde nur aus einem Grund gebaut – aus Größenwahn. Sein Bauherr, der Wall Street- Spekulant John Jacob Raskob, wusste, dass sich diese Investition mitten in der Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre gar nicht lohnen konnte. Seine Motivation war alleine die, sich selbst ein Denkmal zu setzen. Der Bau des Empire State, darüber ist sich deshalb heute die Geschichtsschreibung einig, war eine letzte Zuckung des überdrehten amerikanischen Finanzkapitalismus der Roaring Twenites - kurz bevor dieser in der großen Depression der 30er Jahre versumpfte.

So ist das Empire State der weithin sichtbarste Überrest der vielleicht glanzvollsten Ära der amerikanischen Geschichte. Es steht für den schwindelerregenden Aufstieg der USA zur militärischen und wirtschaftlichen Weltmacht nach dem Ersten Weltrkieg. Des Aufstiegs zum Empire State – zum Staat, der ein Weltreich ist.

Der imperiale Bau ragt einsam und herrisch aus der Mitte der Insel von Manhattan. Roskob baute das Empire State Building zehn Häuserblocks südlich vom damaligen Geschäftszentrum der Stadt und bildete sich ein, die Stadt würde zu diesem Denkmal seiner finanziellen Potenz hinwachsen. Doch die Stadt scherte sich nicht um seine Pläne und so sticht das Empire State bis heute markant aus der New Yorker Skyline heraus. Nördlich und südlich klaffen riesige Löcher.

Nicht zuletzt wegen seiner Herausgehobenheit ist das Empire State ein Anblick von überwältigender Grandiosität.
Die Chromstahlbeschläge entlang der klaren Vertikallinien der Fassade geben der Konstruktion eine glorreiche Aura, wenn sie an einem schönen Tag in der Sonne funkeln; einen leuchtenden Glanz, der von der Herrlichkeit New Yorks und Amerikas zeugt und von allem, was beide groß gemacht hat: Unternehmergeist, Optimismus und grenzenloses Selbstvertrauen.

Das waren auch die Charaktereigenschaften, mit denen Roskob 1929 an den Bau heranging. Der Investor wollte an das Ende eines ohnehin schon überdrehten Baubooms ein riesiges Ausrifezeichen setzen – das größte Gebäude der Welt. Es sollte größer werden, als der Eiffel-Turm, vor allem aber größer, als der zeitgleiche Bau seines Rivalen, des Automobil-Milliardärs Walter Chrysler an der 42ten Strasse – jener verspielte Jugendstil-Wolkenkratzer, der bis heute im Ensemble der New Yorker Skyline den Kontrapunkt zum strengen Empire State Building bildet.

Roskob verkündete das Vorhaben den New Yorkern stolz am 29. August 1929. Zwei Monate später hatte die Wall Street schon jenen unaufhaltsamen Sturzflug begonnen, der die Weltwirtschaftskrise auslöste. Doch das irritierte Roskob nicht. Mit dem ungetrübten Glauben daran, dass nichts unmöglich ist, machte er sich der Krise zum Trotz an ein Unternehmen, dass es in dieser Form noch nie gegeben hatte. Die Fließband-artige Effizienz, die auf der Riesenbaustelle herrschte, schlug New York und die ganze Welt in seinen Bann: Bis zu 14 Stockwerke am Tag wuchsen in die Luft.

Darüber hinaus produzierte der Bau einen neuen Heldentyp – den stoischen Hochbauarbeiter, der für 1,92 Dollar pro Stunde und für ein Sandwich zum Lunch sein Leben auf das Spiel setzte. „Das sind klassische Heroen“, schrieb damals ein Journalist. „ Sie verschmelzen ihre Nerven aus Stahl mit dem Stahl, aus dem sie die Stadt der Zukunft bauen.“

Man hat unweigerlich diese Männer im Kopf, wenn man ort oben auf der Terrasse steht. Dort, wo sie vor 76 Jahren auf Stahlstreben saßen und ihre Füße in die Tiefe baumeln ließen, während sie ihr Pausenbrot aßen. Der Dokumentarfotograf Lewis Hine hat dieses Bild zur Ikone und die Arbeiter für immer zu Helden gemacht. Sie verkörperten den Geist, der den Bau angetrieben hat: Jenes uramerikanische Zupacken, das keine Zweifel und kein Zaudern kennt. „Für mich symbolisiert das Empire State den stählerner Bizeps, die unbändige Energie von New York“, sagt ein Mann aus Colorado, der mit seiner Tochter im Teenager-alter nach Norden in Richtung Zentralpark schaut.

Andere Besucher haben indes andere Assoziationen. „Ich denke an King Kong“, sagt ein etwa zwölf Jahre alter schwarzer Junge, der im Nordosten nach dem Baseballstadion der New York Yankees sucht. Sicherlich denkt er an das Remake des Films von 2005: Das Original, das den Weltruhm des Empire State Building mehr begründet hat, als irgendetwas anderes, kann er nicht kennen. Schon 1933 kam der Streifen ins Kino. In dem Film steht das Empire State für die Verderbtheit der Großstadt und somit der westlichen Zivilisation insgesamt: Das gutherzige Monster aus dem Dschungel wird von der Liebe zu einer schönen Frau aus seiner angestammten Umgebung gelockt und geht an der feindseligen urbanen Umgebung zu Grunde. Diese wird dargestellt vom Moloch New York und vom Empire State Building im besonderen. In dem Film steht das Gebäude für alles, was an Städten korrupt ist: Am Funkmast des Empire State hängend, findet der Affe, der hier die unschuldige Natur selbst bedeuten soll, den Tod.

Die New Yorker haben sich um solche Kritik nie geschert: sie haben das Empire State als ihr Wahrzeichen von Anfang an ins Herz geschlossen. Das änderte sich auch nicht, als das World Trade Center gut 40 Jahre später aus der Südspitze der Insel wuchs und dem Empire State den Rang als höchtes Gebäude der Stadt ablief. Das World Trade Center war den New Yorkern stets zu kalt und zu wenig elegant.


Nach der Zerstörung des World Trade Center hat das Empire State wieder seine angestammte Stellung als unangefochtener Primus unter den New Yorker Hochhäusern. Es ist jetzt allerdings auch eine mögliche Zielscheibe derer, die an amerikanischer Selbstherrlichkeit Anstoß nehmen. Für die Touristen, die jeden Tag auf die Aussichtsterrasse fahren, hat das Flughafen-ähnliche Sicherheitskontrollen zur Folge.

Man verliert mehr als einmal die Geduld, während man sich in der Horde Tausender anderer Gäste durch einen endlosen Irrgarten von Absperrungen rund um die Aufzüge im ersten Stock schlängelt. Zum Glück ist es unmöglich, einfach umzukehren, wenn man sich einmal angestellt hat und in der Schlange zur Sicherheitskontrolle steht, die zur Schlange an der Kasse führt, die widerrum zur Schlange an den Aufzug führt, der wiederrum zu noch einer Schlange zu noch einem Aufzug führt. Könnte man umdrehen, würde man wohl nie bis zum 86. Stock durchhalten, wo man sich auch noch durch eine kaufhaus-ähnliche Halle mit Kitsch- und Souvenirläden kämpfen muss, um endlich ins Freie zu gelangen.

Auf dem dicht gedrängten, nur etwa zwei Meter breiten Balkon, der einmal rund um das Gebäude läuft, verfliegt der Ärger über diese Unbillen jedoch mit dem ersten Windstoss, der einem vom East River herauf durch die Haare bläst. Als Fußgänger auf den Strassen New Yorks fühlt sich die Stadt überwältigend und bedrohlich an. Hier oben versteht man warum: es wird anschaulich, wie mächtig dieses anarchische urbane Gebilde tatsächlich ist. Es scheint in keiner Himmelsrichtung jemals ein Ende zu nehmen, nirgends wird eine Grenze zwischen Stadt und Land erkennbar.

Blickt man nach unten, gewinnt man direkt unterhalb der Plattform allein in den am nächsten liegenden Häuserblocks den Eindruck von einer unfassbaren Dichte an Bauten, an Menschen, an Geschäft, an Leben. Wenn man das dann hochrechnet, wird New York zu einem Universum, zu einer Endlosigkeit, die einen erschaudern lässt.

Nur zehn Minuten später steht man dann wieder auf der 34ten Strasse und wird Eins mit dem Strom und dem Lärm und der Geschäftigkeit. Doch man fühlt sich gestärkt: Der Kampf, sich zurecht zu finden und zu überleben ist jetzt geadelt durch das Wissen, Teil von etwas zu Größerem zu sein. Von etwas Wahnsinnigem, von Etwas, das schon längst ausser Kontrolle geraten ist. Von Etwas, das jedoch genau deshalb unendlich faszinierend ist.