Saturday, April 08, 2006

Heimat ohne Heim - Der Geist von New Orleans lebt noch

“Nicht schlecht, was?”, grinst mich mein Nachbar an der Theke des “Molly’s at the Market“ an, während er zufrieden weiterkaut. Jeder von uns hat vor sich ein monströses Sandwich, prall gestopft mit Mortadella, Schinken, Salami, Mozarella und Provolone und garniert mit einem süßlich-scharfen Olivensalat. „Muffaletta“ heißt die Komposition, die sizilianische Einwanderer vor 150 Jahren nach New Orleans importiert haben. Dazu gibt es ein großes Abita Amber – ein rötlich schimmerndes cremiges Bier einer Kleinbrauerei aus New Orleans.

Wie für mich denn der Abend weiter gehe, will der Mann mit dem lustigen Musketiersschnurrbart, der sich als Arthur vorstellt, wissen. Ich habe gehört, der Trompeter Kermit Huffins spiele umsonst im Howling Wolf , sage ich ihm. „Klingt gut“, erwidert er. Er habe eigentlich vor gehabt, ins Snug Harbor in der Frenchmen Street am Rande des French Quarter zu gehen – dort, wo sich noch ein wenig jenes Flair der Boheme gehalten hat, für den das „Vieux Carree“ berühmt ist. Dort spiele nämlich Ellis Marsalis – eine Legende unter den Jazz-Pianisten. Wir verschieben die Entscheidung und bestellen erst einmal noch ein Abita.

In diesem Augenblick ist die Welt in Ordnung. New Orleans ist alles das, wofür man sie liebt. Zeit ist keine relavante Kategoire, es gibt nur gutes Essen und gute Musik. Man lässt sich vom Tag durch den Abend und in die Nacht treiben und alle anderen tun das auch so. Das Ganze ist eine riesige Jazz-Improvisation, in der man sich verliert und doch nicht verloren vorkommt, weil alle auf demselben Beat sind. Es regieren der Zufall und alles, was für den Augenblick glücklich macht.

In den historischen Bezirken – dem French Quarter,dem Garden District und der Gegend um die St.Charles Avenue – scheint es, als hätte es Hurricane Katrina nie gegeben. Der Geist von New Orleans ist hier so lebendig wie eh und je – jener Geist, der die New Orleaner so an ihre Stadt bindet und der so viele Besucher lockt. Es ist ein Lebensgefühl, das von jedem Besitz ergreift, der durch die Strassen von New Orleans läuft. Ein Lebensgefühl, dass aus der einzigartigen Mischung von spanisch-französischen, afrikanischen und karibischen Einflüssen entspringt. „Katholizismus und afrikanische Glaubenssysteme überschneiden sich in New Orleans zu einem Kult des Diesseitigen“, sagt der New Orleaner Schriftststeller Tom Piazza. Musik, Tanz, Essen, Feiern mit den Nachbarn und die Liebe – das alles sind hier Dinge, die sehr ernst genommen werden. Eine Nacht im French Quarter, in der man ein gutes Mahl genießt und sich dann der Musik hingibt ist nicht bloße Unterhaltung, es ist ein beinahe religiöser Akt.

Diese Lebenseinstellung hilft den New Orleanern wohl auch, das Leben nach der Katastrophe zu meistern. Man weiß hier mit dem Nebeneinander von Lebenslust und Trauer umzugehen. Es ist kaum anders, als jene berühmten Jazz-Begräbnisse, die plötzlich in ein wildes, lebensbejahendes Strassenfest umschlagen. Leben und Tod haben in der New Orleaner Kultur schon immer einen Platz nebeneinander gehabt, waren beide gleichermaßen wahrhaftig.

Deshalb kommt man sich auch nicht obszön vor, wenn man in den Hades der zerstörten Viertel hinabsteigt und anschließend im Brennan’s oder im Antoine’s im French Quarter eine vorzügliche Flußkrebs-Bisque schlürft. Im Gegenteil, mit den New Orleanern gleichermassen zu leiden und zu feiern ist ein willkommener Akt der Solidarität.

Drei Stunden lang kämpft Reiseunternehmerin Isabelle Cussart ständig mit den Tränen, während sie uns in einem Kleinbus durch die endlose postapokalyptische Landschaft kutscht, die gleich hinter dem French Quarter anfängt; durch ein Meer von Trümmern, und Autowracks, zwischen denen die Menschen hilflos versuchen, irgendwo mit dem Aufräumen zu beginnen. Man durchleidet mit ihr die Wut und den Schmerz aber auch die Freude über jede Kleinigkeit, die auf Neuanfang schließen lässt – wie etwa ein Stromzähler an einem der vielen wahllos geparkten Wohnwagen, der darauf hinweist, dass die Leute, die darin hausen, wenigstens wieder Licht haben.

Und wenn man nach all dem wieder in das wunderbar herausgeputzte French Quarter einbiegt ist man gemeinsam mit Isabelle umso mehr über die Schönheit des Viertels beglückt, dankbar für die Insel der Normalität. Ein schlechtes Gewissen wegen des Trümmer-Tourismus zu haben, das wäre europäisch-protestantisch. Hier in New Orleans ist das Fehl am Platz – man fühlt sich willkommen, in das Haus von New Orleans einzutreten und Anteil zu nehmen, auch wenn es ein wenig unaufgeräumt ist und es ein paar Familienmitgliedern gerade nicht so gut geht.

So freut man sich hier schon jetzt auf das Jazzfest Ende April, wenn wieder Zehntausende nach New Orleans strömen, um sich zusammen mit den Einheimischen dem hinzugeben, was hier am wichtigsten ist – der Musik, dem Essen, dem Leben selbst. Dann werden auf dem alten Messeplatz neun Bühnen aufgebaut, von denen hier Jazz, dort Gospel, da hinten Zydeco, an der anderen Ecke Blues, ein Stück weiter haitianische Musik und daneben afrikanische Rhytmen tönen. Zwischen den Bühnen sind Stände aufgebaut, an denen es Milchkalb-Sandwiches, Flußkrebs-Etouffee, gebratenen Truthahn oder einfach nur frische Austern aus dem Delta gibt. Man hört Musik und tanzt und isst und verliert sich in der Feier, die die ganze Stadt erfasst und in der sie ihren Lebenswillen und ihren Geist bekräftigt.

Eine Ahnung von diesem Geist bekommen Arthur und ich im Donna’s an der Rampart-Street, wo wir schließlich landen. Das Donna’s besteht aus ein paar einfachen Holzstühlen und –Tischen auf einem abgewetzten Linoleumfußboden. Vergilbte Bilder von früheren Jazzgrössen zieren die Wand. Schlicht gekleidete Paare aller Altersklassen füllen den Raum gemeinsam mit ein paar einzelnen Stammgästen. Die Zusammenkunft hat etwas alltägliches - man geht hier zum Dixie, wie man in Deutschland in die Pilsstube geht, um Fußball zu schauen. Die Band, die New Orleans Jazz-Vipers, ist ein zusammengewürfelter Haufen aus alt und jung, schwarz und weiß, geeint durch den Jazz. Der etwa 60-Jährige Saxophonist spielt die alten Dixienummern ebenso leidenschaftlich wie der junge schwarze Posaunist, der in seinem Trainingsanzug und mit seiner Goldkette eigentlich eher aussieht wie ein Rapper.


Paare stehen nach und nach auf und tanzen Ragtime und sie tun das so lässig und so perfekt, wie die Musiker ihre Instrumente beherrschen, weil alle hier mit dieser Musik aufgewachsen sind. Donna, die Wirtin, serviert derweil das einzige Gericht auf der nicht vorhandenen Speisekarte – hausgemachtes Jambalaya, einen scharfen Eintopf aus Würsten und Meeresfrüchten.

Es ist in solchen Momenten leicht zu vergessen, was diese Stadt durchgemacht hat. Erst als die Violinistin den Posaunisten durchs Mikrofon fragt, wann er denn wieder nach New Orleans zurück ziehen werde, wird man daran erinnert. Es hat ihn nach dem Sturm nach Oregon verschlagen und er ist nur zu Besuch. „Bald, sehr, sehr bald“, komme er zurück, antwortet er mit zitterndem Heimweh in der Stimme. Noch hat er in New Orleans keine Wohnung. Aber er hat noch immer eine Heimat hier.