Friday, March 24, 2006

Email aus New York,

Hi,

Es gab einmal eine Kunst, die man als New Yorker einfach beherrschte. Es war die Kunst, Situationen auf der Strasse blitzschnell und präzise einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten. Ist die Gruppe Jugendlicher da vorne an der Ecke harmlos? Laufe ich stoisch an ihnen vorbei, biege ich unauffällig ab oder wechsele ich am Besten die Strassenseite?

„Street Smarts“ hieß diese Kunst und sie ist in Vergessenheit geraten, seit Bürgermeister Rudy Giuliani brachial Manhattan aufgeräumt und zu einer kindersicheren Vergnügungszone für die gut verdienende weiße Mittelschicht gemacht hat. Seit ein paar Jahren bewegt man sich völlig sorglos und ohne nachzudenken zu jeder Tages- und Nachtzeit durch wirklich alle Ecken von New York und denkt nicht weiter darüber nach. Im Central Park, der nach Einbruch der Dunkelheit in den 80er Jahren als Versammlungsort für alle Räuber, Mörder und Vergewaltiger der Ostküste galt, geht man heute noch um Mitternacht joggen.

Das könnte sich nun wieder ändern. Seit drei Wochen ist die Stadt im Schockzustand über den Mord an der 25 Jahre alten Imette St. Guillen. Es war zwar bereits der 96. Mord in diesem Jahr aber diser Mord war anders. Es war keine Schießerei zwischen arbeitslosen schwarzen Jugendlichen um Drogenverkaufsterritorien irgendwo im Ghetto draußen in Brooklyn oder in der Bronx. Nein, Imette war ein bildhübsches weißes Mädchen aus gutem Hause, die nichts falsch gemacht hatte, als am Freitagabend mit ein paar Studienkollegen im vornehmen Shooping- und Ausgehviertel SoHo durch die Kneipen zu ziehen.

Am nächsten Morgen wurde sie gefesselt, vergewaltigt und erwürgt in einem Sumpf in der Nähe des Flughafens gefunden. Wie sie von SoHo aus dorthin kam, ist immernoch ziemlich unklar. Vermutlich hat der Türsteher der Kneipe, vor der sie eine Zigarrette geraucht hatte, sie in sein Auto gelockt und entführt.

Der Türsteher Darryl Littlejohn ist ein Karrierekrimineller und wie das bei Karrierekriminellen in den USA leider meistens so ist – er ist Schwarz. Seit seinem 12. Lebensjahr war er mindestens so viel im Gefängnis, wie draussen. Er lebt in einer heruntergekommenen Sozialbausiedlung am Stadtrand, weit Weg vom glorreichen Neonglanz von Manhattan. Er gehört zu den Typen, für die es ausserhalb ihrer Dienstzeit als Türsteher, U-Bahn Schaffner oder Parkplatzwächter seit Rudy Giuliani in Manhattan keinen Platz mehr gibt – sie könnte sich hier kaum mehr einen Burger und ein Bier leisten. Aber ebenso wie die Obdachlosen, die Giuliani von der Insel verscheucht hat, waren Kriminelle wie Littlejohn zwar aus den Augen und aus dem Sinn, nicht aber vom Erdboden verschwunden. Das alte New York mit den brutal sichtbaren sozialen Unterschieden und deren schlimmen Folgen, klopft wieder an. Was haben wir nur all die Jahre gedacht, als wir unbekümmert Morgens um drei durch das Village oder sogar durch Harlem flaniert sind, als wäre das hier eine beschauliche Kleinstadt im Mittelwesten?

Sebastian Moll