Monday, May 08, 2006

Leben im Ghetto der tägliche Kampf

In der Regel trage ich mein Schicksal, im Ghetto zu wohnen, mit Fassung. Schließlich teile ich es mit den meisten meiner New Yorker Bekannten, die weder Rechtsanwälte noch Financiers sind. Wir trösten uns gegenseitig damit, dass das Leben in Harlem oder in der South Bronx sowieso viel authentischer, und, nun, eben lebendiger ist, als im parfümierten, hochgestylten Midtown oder Downtown. Hier oben wird wenigstens noch auf der Strasse Basketball gespielt und im Sommer bis spät in die Nacht vor der Tür gehockt und getratscht – anderswo hat man dafür zwischen 70 Stunden-Wochen, Cocktail-Parties und Power-Shopping keine Zeit mehr.


Manchmal wachsen einem die Härten der Existenz nördlich der Klassen- und Rassen-Grenze 110te Strasse dann aber doch über den Kopf. Wenn man etwa täglich darum kämpfen muss, seine abonnierte New York Times auch tatsächlich an den Frühstückstisch zu bekommen.

Im vornehmen Village oder auf der Upper West Side haben entweder die Zeitungsausträger Haustürschlüssel oder Portiers nehmen die Times in aller Herrgotttsfrühe in Empang. Im Ghetto geben hingegen wehrhafte Vermieter niemandem einen Schlüssel. Auch nicht der ehrenwerten Times. Portiers? Fehlanzeige.

So wird das Zeitungsbündel um etwa viertel nach Fünf einfach vor die Haustür geschmissen. Wenn man zu einer menschlichen Zeit, also etwa um halb acht, danach sucht, ist sie dann meistens weg. In den Bodegas hier oben gibt es keine Intelligenzblätter, deshalb ist der Diebstahl besonders gemein.

Also muss man entweder in den sauren Apfel beissen und um fünf aufstehen. Weil das aber eigentlich weit über die Grenzen des Machbaren hinaus geht, habe ich es mit allerlei anderen Strategien versucht. Eine Weile lang warf der Hausmeister vom Nachbarhaus, der um fünf den Müll auf die Strasse trug, gegen ein Trinkgeld die Zeitung über den Zaun zu unserer Kellertreppe. Das stellte sich jedoch als unzuverlässig heraus – auch vom Kellertreppenabgang wurde sie oft zwischen den Zaungittern herausgepult. Deshalb gab ich ihm einen Schlüssel zu unserem Hauseingang. Das funktionierte ein paar Wochen, bis eine alte Frau aus dem ersten Stock, die immer früh wach war, ihn und mich aus Langeweile und Geltungssucht bei der Verwaltung verpfiff.

Mittlerweile ist der gute Mann umgezogen. Ich habe mich nach anderthalb Jahren Kampf in mein Schicksal gefügt, im Halbschlaf auf die Strasse zu torkeln und den Zeitungsdieben zuvor zu kommen. Der Tag beginnt seither für mich regelmässig mit einem klassenkämpferischer Zorn auf den überblähten New Yorker Immobilienmarkt. Nach dem zweiten Kaffee und der halben Zeitung in meiner geräumigen Wohnküche legt sich das jedoch wieder. Dann erinnere ich mich daran, dass meine Wohnung 100 Blocks weiter südlich vermutlich das doppelte meines Einkommens kosten würde. Ein zu hoher Preis dafür, die Zeitung täglich an die Türschwelle zu bekommen.