Thursday, November 22, 2007

Zockst Du noch oder wohnst Du schon? Die Verwandlung der Wall Street in ein Luxuswohnviertel

Financial Times Deutschland, 16. 11. 2007

Der kleine Schusterladen von Minas Polychronakis ist zum Bersten voll um die Mittagszeit – Geschäftsleute lassen sich von seinen drei Schuhputzern die edlen Ledergaloschen polieren, elegante Damen bringen Pumps mit abgebrochenen Absätzen zur Reparatur und Touristen kaufen Imprägnierspray für ihre Turnschuhe. Das Geschäft des 66 Jahre alten gebürtigen Kreters an der Wall Street läuft ordentlich aber der gebückt hinter der Theke hin und her humpelnde Grieche klagt trotzdem über sein Schicksal. Die Verluste, die er während der Krisenjahre nach dem 11. September gemacht hat, sagt er, könne er nie wieder gut machen und deshalb habe er seinen herbei gesehnten Ruhestand auf unbestimmte Zeit verschieben müssen. Vor allem aber kann er sich nicht damit abfinden, dass der Finanzdistrikt, in dem er seit 1970 die Schuhe der Börsianer in Schuß hält, nie wieder so sein wird, wie er einmal war.

Früher, berichtet der freundliche kleine Mann, hätten tagein tagaus die Makler bei ihm Schlange gestanden. Die Financiers seien jedoch rar geworden und seine neue Klientel könne die alte nicht ersetzen. „Das Gebäude, in dem wir sind, Wall Street Nr.67,“ illustriert er seine Situation, „war früher das Bankhaus Brown Brothers. Da haben 8000 Leute gearbeitet. Jetzt sind es 400 Luxuswohnungen mit gerade einmal 1000 Menschen.“ Und die bräuchten auch nicht wie seine alten Kunden ständig auf Hochglanz gewienerte Schuhe.

Polychronakis will trotzdem weiter machen so lange er kann, weil die Wall Street, wie er sagt, nun einmal seine Heimat ist. Es ist allerdings eine Heimat, die er selbst nicht mehr wieder erkennt. Der einst wuselige Platz direkt vor der Börse etwa ist selbst zur Rush-Hour am Morgen vergleichsweise ruhig – zwischen den Battalionen uniformierter Terrorismus-Schützer tummeln sich mehr fotografierende Japaner als Broker. Aus der Eingangstür des Hochhauses gegenüber, dem alten Hauptquartier von J.P. Morgan schieben mexikanische Babysitter Kinderwägen zum Spazieren an die Luft. Das altehrwürdige Bankhaus ist seit drei Jahren ein Apartment-Komplex mit 380 Designerwohnungen für Gutverdienende. Im Erdgeschoß bietet Hermes seine Schals und Handtaschen an, um die Ecke bestaunen schüchterne Reisende und Ladies mit Luxus-Neigungen die prunkvollen Auslagen der neuen Wall Street-Filliale von Tiffany’s. Direkt daneben dekoriert das Nobelrestaurant Cipriani wie beinahe jeden Tag seinen Ballsaal für irgendeine verschwenderische Prominentengala am Abend.

Die Wall Street, einst das Zentrum der Finanzwelt, ist derzeit dabei, sich in einen exklusiven Wohn- und Einkaufsbezirk zu verwandeln. Vom Finanzgeschäft ist kaum noch etwas übrig – große Häuser wie Lehmann Brothers, Morgan Stanley und Bear Stearns sind schon längst nach Midtown Manhattan umgezogen, demnächst verläßt auch noch Merrill Lynch, die im World Financial Center gegenüber von Ground Zero sitzen, das Viertel; die einzige Investmentbank, die noch direkt an der Wall Street residiert, ist die Deutsche Bank. Auch die Börse selbst stirbt im Zuge die Digitalisierung des Finanzgeschäfts langsam ab – noch in diesem Monat werden zwei der verbleibenden vier Handelsräume geschlossen.

Der 11. September hat diesen Prozess zwar beschleunigt, ausgelöst hat er ihn jedoch nicht. „Das fing schon in den 80er Jahren an, als Morgan Stanley wegzog“, erinnert sich Heiko Thieme, der damals an der Wall Street für die Deutsche Bank handelte und jetzt seine eigene Investmentfirma von seinem Heim im New Yorker Wohnvorort Stamford aus führt. Die alten Zeiten, als man noch im Lucheon Club auf dem dritten Stock der Stock Exchange bei Austern und Champagner oder in Harry’s Bar am Hanover Square am Abend Geschäfte abschloß und die Börsianer sich in den gedrängten Gassen des alten Manhattan ihre eigene Welt geschaffen hatten, so Thieme, sei spätestens seit Mitte der Neunziger Jahre verloren.

Erst die Zerstörung des World Trade Center öffnete jedoch die Tür für risikofreudige Investoren mit neuen Ideen, wie etwa den hasidischen Brooklyner Juden Shaya Boymelgreen. Durch Steuererleichterungen angelockt kaufte er das eigentlich zum Abriss frei gegebene historische Morgan-Stammhaus Nummer 23 Wall Street/15 Broad Street zum Dumpingpreis von 100 Millionen und ließ es 2003 in ein Luxusapartment-Haus umwandeln. Nur ein Jahr nach der Fertigstellung waren die zwischen 650,000 und acht Millionen Dollar teuren, von Phillippe Starck gestalteten, Einheiten weg. Der Erfolg ermutigte Nachahmer – etwa die Hälfte der alten Art Deco-Hochhäuser an der Westseite der nur wenige hundert Meter langen Wall Street sind mittlerweile Luxus-Condominiums, zum Teil mit Fünfsterne-Hotelbetrieben durchmischt wie an der von David Rockwell umgebauten Nummer 75.

Wenn man heute die Wall Street hinunter läuft flattern überall über der Gasse bunte Fahnen, die in großen Lettern zum Wohnungskauf animieren sollen. Wo früher Empfangshallen zu Bürohochhäusern waren sind nun Fitnesstudios und Gourmet-Lunchcafes, sowie eine BMW-Niederlassung. In der parallel verlaufenden Maiden Lane hat gerade der Edelsupermarkt Christede’s eröffnet, Buchläden und Einrichtungshäuser sowie rund 20 Hotels für gehobene Geschätsreisende und Touristen sind in der Gegend geplant. Auf der für den Verkehr gesperrten Stone Street, nur einen Block von der Wall entfernt, haben ein Dutzend Restaurants und Bistros Tische auf das Kopfsteinpflaster gestellt und verbreiten mitteleuropäisches Altstadtflair.

Die Politiker der Stadt New York freuen sich über all diese Aktivität in dem von den Terrorangriffen des 11.September vernarbten Viertel. Die sechs Milliarden an Wiederaufbauzuschüssen und Steuererleichterungen für Lower Manhattan von der öffentlichen Hand scheinen sich auszuzahlen, das Leben ist an die Wall Street zurück gekehrt. Manos Polychronakis hat von diesen Milliarden gerade einmal 28,000 Dollar bekommen, wie er erzählt - zu wenig, um die Flautejahre nach 2001 zu überstehen, wie er klagt. „Ich habe den Preis dafür bezahlt, dass das Viertel jetzt wieder kommt und die Immobilieninvestoren sich satt verdienen können“, klagt er. „Wenn ich wie viele andere in eine andere Gegend umgezogen wäre, ging es mir jetzt gut.“ Polychronakis’ Schuhgeschäft war nicht die Art von Einzelhandel, die man mit Macht an der neuen, schicken Wall Street halten wollte, er ist heute ein Fremdkörper und es ist beinahe ein Ärgernis, dass er trotz allem hier weiter gemacht hat. Aber noch gibt es ja ein paar Bänker hier, die täglich mit glänzenden Schuhen das Börsenparkett betreten wollen. Und so lange die noch hier sind, bleibt auch Manos.

Wall Street Distrikt Adressen:

Tiffany’s, 37 Wall Street

Hermes, 5 Broad Street

Cipriani Restaurant
55 Wall Street Phone: 212-699-4099


Bistro Patisserie Financier
62 Stone Street
22 344 5600

Delmonico’s Steak House,
55 Beaver Street
212 509 1144


Harry’s Bar
1 Hanover SqNew York NY 212 425 3412