Sunday, November 11, 2007

Der alte Mann und das Biest - Zu Tod von Norman Mailer

Frankfurter Rundschau, 12. 11., 2007


Wären da nicht die letzten zehn Jahre seines Lebens und Schaffens gewesen würde man Norman Mailer ausschließlich als Chronisten des 20. Jahrhunderts nach 1945 in Erinnerung behalten – jener Zeitspanne, die man, ob das einem behagt oder nicht, wohl als die amerikanische Epoche des Weltgeschehens bezeichnen muss. Mailer berichtete aus dem Zentrum dieser Ära – angefangen mit seinem Kriegsroman „Die Nackten und die Toten“ von 1948 über seine preisgekrönte Reportage vom großen Protestmarsch auf Washington von 1968 „The Armies of the Night“, einem Schlüsselroman der Sechziger Jahre, bis hin zu seinen Büchern über Marilyn Monroe, Muhammed Ali, die erste Mondlandung und den zum Tode verurteilten Doppelmörder Gary Gilmore. Doch 1997 wendete sich der Brooklyner Jude scheinbar unvermittelt Fragen der Religion zu, die ihn bis an sein Lebensende nicht mehr los ließen: Zunächst mit einer in der ersten Person erzählten Jesus-Biografie, dann mit seinem Hitler-Roman „Das Schloss im Wald“, in dem er sehr ernsthaft das Wirken des Bösen in der Welt untersucht und schließlich mit einem Interview in Buchlänge zum Thema Gott, das erst vor wenigen Wochen erschien.

Möglicherweise war diese Hinwendung Mailers zum Transzendentalen jedoch gar kein so großer Bruch in seiner Biografie, wie dies zunächst erscheinen mag. Als Mailer 1943, 20-Jährig, von Harvard abging wusste er bereits, dass er den großen amerikanischen Roman schreiben wollte. Er dachte und redete in einem Atemzug von sich, Tolstoy und Dostojevsky und er war enttäuscht, dass die US-Armee ihn 1944 in den Pazifik entsandte und nicht nach Frankreich, um an der Invasion mitzuwirken. Mailer wollte mit gerade einmal 21 den authoritativen Roman zum Zweiten Weltkrieg schreiben und dazu wollte er dort sein, wo Geschichte gemacht wurde. Mailer, dessen Mutter ihn „perfekt“ fand und ihn das auch wissen ließ, besaß von Anfang an das Selbstbewusstsein des Genies, des Auserwählten. Und als solcher wähnte er sich in besonders engem Kontakt mit den höheren Mächten: Der Gott, den er in seinem letzten Interview zeichnet, ist nicht zufällig eine Art Schriftsteller. Mailer stellt die Schöpfung und seine eigenen Schöpfungen unverholen auf eine Stufe. So ist das Interview nicht weniger als der Entwurf und die Gründung einer eigenen Religion, des Mailerismus, wenn man so will.

Mailer war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sein Selbstbewusstsein bisweilen an Größenwahn grenzte. Schon in der Einleitung zu den „Armies of the Night“, dessen Erzähler dem Leser in der dritten Person als Norman Mailer vorgestellt wird, schreibt er, dass der brave Alltags-Mailer immer wieder von einem „wilden Biest“ heimgesucht wird, „einem Egomanen, der nicht daran glaubt, dass es irgendetwas gibt, dass ausserhalb seiner Reichweite liegt.“ Gleichzeitig gesteht Mailer, dass er dieses Biest sehr mag, ja, dass er es für unverzichtbar hält, denn es sei „furchtlos und geistreich.“ Kurz – ohne dieses Biest wäre der Schriftsteller Mailer nicht ausgekommen.

Das Biest, das ihn wohl unter anderem dazu trieb, 1960 mit dem Messer auf seine zweite Frau Adele Morales los zu gehen sowie 1969 dem Schauspieler Rip Torn das Ohr abzubeissen, war zweifellos zugleich seine Muse. Mailer liebte dieses Biest und erhob es 1957 in seinem Aufsatz „The White Negro“ gar zum Ideal des Intellektuellen in der amerikanischen Gesellschaft. Der „White Negro“ oder „Hipster“, kurz der Greenwich Village-Boheme jener Epoche, rebellierte gegen die Konventionen und Moralismen eines engstirnigen Kleinbürgertums und wagte sich in der Hoffnung auf Unmittelbarkeit und Authentizität des Erlebens mutig in das gefährliche Terrain des Tabubruchs -inklusive des Tabus der Gewalt.

Dass Norman Mailer sich bis hin zum Entwurf seiner Privattheologie den Hipster, den Aussenseiter im Besitz einer höheren Wahrheit, zum Ideal nahm, reihte ihn in die Tradition großer amerikanischer Schriftsteller ein. Eine ganze Schule amerikanischer Literaturkritiker, zu denen unter anderem Harold Bloom und Richard Poirier gehören, charakterisieren diese Tradition durch ein Selbstbild des Autors, das der Figur des „Hipsters“ recht genau entspricht: Seit Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau ist laut dieser Theorie der amerikanische Intellektuelle eine Figur, die einen besonderen Zugang zum göttlichen Willen verspürt. Dieser Zugang ist in der amerikanischen Denktradition an eine Verpflichtung zur Grenzüberschreitung gekoppelt, dazu, der eigenen Intuition mehr zu trauen als jedewedem gesicherten Wissen und vor allem, hinaus in die Welt zu gehen, jede Überlieferung hinter sich zu lassen und das Leben mit der Autorität des Beseelten gänzlich neu zu erfahren sowie aufzuzeichnen.

Besonders dieses Hinausgehen in die Welt als Imperativ hat sich Norman Mailer zu Herzen genommen. Schriftstellerei und Journalismus, Roman und Reportage waren bei ihm nicht zu unterscheiden. Schon „Die Nackten und die Toten“ basierten auf Mailers persönlichen Erlebnissen im Pazifikfeldzug der US-Armee, mit den „Armies of the Night“ begründete er jedoch endgültig das neue Genre der Roman-Reportage. Tom Wolfe, selbst ein großer Freund dieser Form, taufte dieses Genre „the new journalism“ und beschrieb es als Non-Fiction, die gründliche journalistische Recherche mit der Sprache und der erzählerischen Raffinesse der Belletristik verbinde. Die Erfindung der Form, von Zeitgenossen wie Truman Capote nachgeahmt und auf die Spitze getrieben, sollte nachhaltige Auswirkungen sowohl auf den Journalismus, als auch auf die Literatur haben.

Die Originalität, die sich in Mailers Genre-Gründung Bahn bricht, war freilich ein direktes Resultat seines übersteigerten Selbstbewusstseins und seiner Respektlosigkeit gegenüber jeglicher Konvention. Derselbe rebellische Geist, Mailers „Biest“, leitete ihn jedeoch Zeit seines Lebens dazu an, immer wieder übers Ziel hinaus zu schießen – wenn er etwa seine Frau attackierte oder wenn er sich am Ende seines Lebens als Relgionsgründer gerierte. Doch der eine Mailer war ohne den anderen wohl nicht zu haben. Heute nehmen wir Abschied von beiden.