Held der kleinen Leute: Brett Favre wird US Sportler des Jahres
(Tagesspiegel, Sylvester 2007)
Es gab nicht eben viele Wohlfühlgeschichten im US-Profisport in diesem Jahr. Die großen Schlagzeilen handelten weniger von Triumphen und Heldentaten als von Skandalen: Der schwer Dopingverdächtige Barry Bonds schlug den ewigen Homerunrekord, wurde dabei erst ausgepfiffen und kurz darauf vor Gericht gestellt; Marion Jones mußte ihre Olympiamedaillen ebenso zurück geben, wie Floyd Landis sein Gelbes Trikot; und zum Jahresende bescherte Senator George Mitchell den Fans einen 300 Seiten starken Report, der dokumentierte, dass nicht ein einziges Team der Baseball-Liga dopingfrei ist.
Angesichts dieser Mangellage fiel die Wahl zum Sportler des Jahres nicht schwer. Die Jury des Magazins Sports Illustrated hatte keine große Auswahl mehr an Heroen. Wenn man sich in jener Trümmerlandschaft umsah, die die Skandale hinterließen, blieben nicht mehr viele Identifikationsfiguren übrig: Im Team der World Series-Champions Boston Red Sox stach ebenso wenig ein einzelner Spieler hervor, wie bei NBA-Meister San Antononio. Basketball Superstars wie Dirk Nowitzki und LeBron James hatten sich alle frühzeitig aus dem Meisterschaftskampf verabschiedet. Die NFL- Star-Quarterbacks Peyton Manning und Tom Brady waren zu blaß und zu glatt für die Auszeichnung. Und so kam eigentlich nur noch ein Mann dafür in Frage, den Titel der Weihnachtsausgabe von Sports Illustrated zu zieren: Brett Favre.
Der 38 Jahre alte Quarterback der Green Bay Packers spielt gerade die Saison seines Lebens. Nachdem man selbst in Green Bay im vergangenen Jahr hinter vorgehaltener Hand schon darüber sprach, daß der alternde dreifache MVP sich und dem Football-besessenen Städtchen an der kanadischen Grenze vielleicht lieber den Gefallen eines Rücktritts tun sollte, übertraf Favre in dieser Saison den ewigen Rekord für Touchdown-Pässe der Miami Dolphins-Legende Dan Marino – sowohl von der Anzahl der erfolgreichen Abgaben, als auch von den überwundenen Yards her. Die Packers haben die National Conference gewonnen, sich nach nur drei Saisonniederlagen bei zwölf Siegen seit langem einmal wieder frühzeitig für die Playoffs qualifiziert, und man traut ihnen zu, zum ersten Mal seit 1997 wieder bis in das Superbowl-Finale vorzudringen.
Es war allerdings nicht alleine dieses erstaunliche Comeback des Brummbären mit den mittlerweile ergrauten Bartstoppeln, das Favre zum unangefochtenen Spitzenkandidaten für die Wahl zum beliebtesten US-Athleten machte. Er war vor allem auch deshalb der offensichtliche Favorit, weil sich amerikanische Sportfans mit kaum einem anderen Sportler so einstimmig identifizieren wie mit Favre. Es gibt kaum jemanden, der sich auch nur ein bißchen für Football interessiert, der Favre nicht diesen dritten Frühling von Herzen gönnt – die Fans rivalisierender Teams eingeschlossen. Als Favre am 16. Dezember gegen St. Louis den Yard Rekord von Dan Marino übertraf, wurde das Spiel unterbrochen, und das ganze Stadion spendete Minuten lang Szeneapplaus- inklusive der Anhänger der heimischen Rams für die der Rekordpaß von Favre eine herbe 33-14 Niederlage bedeutete.
Favre hat es immer vermocht den Football-Freunden zu vermitteln, dass er einer von ihnen ist. Tom Brady, der Quarterback der unantastbaren New England Patriots, ist eine entrückte Touchdown-Maschine und ein Superstar im Hollywood Format. Favre hatte hingegen vom ersten Tag seiner Karriere die Aura des Typs von Nebenan: er hatte unübersehbare Ecken und Kanten, Höhen und Tiefen, an denen er seine Anhänger wohl oder über teilhaben ließ. Er hat in der Öffentlichkeit mit seiner Alkohol- und Medikamentensucht gerungen, er ist unter aller Augen vom spätpubertierenden Haudrauf zum Verantwortungsträger und Vorbild gereift. Er hat Todesfälle in der engsten Familie überwunden sowie die Krebserkrankung seiner Frau gemeistert.
Der Hauptgrund, warum sich nicht nur die ganze Region rund um Green Bay – tiefster Mittelwesten und ur-amerikanische Provinz – sondern mittlerweile die ganze Nation Favre so mögen, ist, dass er alle diese Schläge in den 17 Jahren seiner Karriere nie im Stillen und für sich ausgetragen hat. Er trug sein Leben und Leiden immer auf der Haut, ließ sich jedoch dabei durch nichts davon abhalten, trotzdem seinen Job zu erledigen. Egal, was mit ihm los war, er lief auf, auch wenn er offensichtlich nicht in bester Verfassung war. So hat er unter den Star-Quarterbacks die durchwachsendste Gesamtbilanz – keiner der Top-Männer hat so oft auch daneben geworfen. Aber Favre ist mit 251 ununterbrochen Profi Spielen in der Startaufstellung der Packers auch bei weitem der zuverlässigste Arbeitnehmer aller Zeiten in der NFL. Und das weiß der einfache Arbeiter auf der Tribüne zu würdigen.
So war das Spiel, das Favres Legende begründete wie kein anderes, nicht etwa das gewonnene Superbowl-Finale gegen New England von 1997. Es war vielmehr jene denkwürdige Vorstellung am 22. Dezember 2003 gegen die Oakland Raiders. Favre warf an einem Abend Pässe mit einer Gesamtlänge von 399 Yards und lieferte somit eine Galavorstellung ab. Seine Packers gewannen mit 41 zu 7. Trotzdem gaben auch die Raiders-Fans Favre stehende Ovationen. Am Abend zuvor war nämlich Favres Vater Irving genant „Big Irv“ gestorben. Favre hatte wieder einmal vor aller Augen durch seinen Schmerz hindurch gespielt und triumphiert. Fast jeder der 80,000, die damals dabei waren, hatte den ganzen Abend lang Tränen in den Augen.
Die Frage, die man sich in Green Bay und anderswo nun stellt, ist freilich, wie viele Spiele Favre ihnen trotz schmerzender Gelenke und immer länger werdenden Erholungsphasen wohl noch schenken wird. Favre weiß das selbst noch nicht, er nimmt die Dinge derzeit Spiel für Spiel. „Sicher würde ich gerne mit einem Superbowl Finale aufhören. Aber das muss nicht sein. Ich bin zufrieden mit meiner Karriere, so wie sie jetzt ist, da muss nichts mehr dazu kommen.“ Ohnehin, sagt Favre, seien es im Nachhinien nicht die großen Triumphe und die glorreichen Touchdowns, die hängen geblieben seien, sondern, „die schweren Zeiten, wenn ich Down war und Eins in die Fresse gekriegt habe. In diesen Zeiten habe ich mich selbst gefunden, deshalb waren es die wertvollsten Momente.“ Favres Fans werden das genauso sehen – und ihm, wann immer er auch abtritt vor allem dafür danken, dass er sie hat an diesen Momenten teil haben lassen.
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